Mit der Geige vom Wissen zum Handeln
Von Dr. sc. nat. ETHFelix Keller, Glaziologe
Während der Zeit meines Geografiestudiums erlebte ich durch einen jungen Geigenlehrer einen unerwarteten Aufschwung in meiner Faszination zur Violine. Sein Umgang mit der Violine begeisterte und berührte mich bis ins Innerste und erweckte ein Feuer in mir. Das üblicherweise anstrengende Üben wurde zum reinen Vergnügen. Meine vorherigen Erfahrungen wurden durch eine neue ersetzt: Handeln muss nicht immer anstrengend sein, sondern kann auch wunderschön sein. So begleitete mich das Violinspiel während dem Studium, der Zeit der Familiengründung und dem Aufbau eines kleinen Institutes an der Academia Engiadina stets durch alle Hochs und Tiefs. Nach 22 Jahren des gemeinsamen Spiels markierte ein neuer wichtiger Meilenstein, der Lehrauftrag in Fachdidaktik Umweltlehre an der ETH Zürich, eine neue Lebensausrichtung. Ich ahnte noch nicht, was durch diese neue Ausrichtung auf mich zukommen würde, jedoch bereitet mich der bekannte Didaktikprofessor Prof. Karl Frey mit einem Geschenk kurz vor seinem Tode darauf vor. Ein kleines Büchlein mit dem bescheidenen Titel «Umwelt wer handelt?» gestattete mir einen ersten Einblick in Thematiken, welche mich in meinem nächsten Lebensabschnitt beschäftigen würden. Darin werden eine breit angelegte Studie des deutschen Motivationspsychologen Jürgen Rost mit 1’300 Gymnasiasten sowie ein erklärendes Handlungsmodell beschrieben. Im Handlungsmodell geht es um die uns allen bekannte Kluft zwischen Wissen und Handeln. Ein sogenanntes integriertes Handlungsmodell wurde getestet, welches einen hoffnungsvollen Weg vom Wissen zum Handeln aufzeigt. Wenig überraschend nahm ich zur Kenntnis, dass am Anfang jeder Handlung genügend Motivation vorliegen muss, die verschiedene Ursprünge und Auslöser haben kann. Ist genügend Motivation vorhanden, dann erfolgt der Übergang zur nächsten Phase, die Handlungsabsicht. In dieser Phase wird eine konkrete Absicht gebildet, was massgebend für das Handeln ist. Erst wenn die Handlungsabsicht genügend präzis und stark ausgebildet ist, wird eine Handlung ausgeführt.
Ungefähr ein Jahr später, am 3. Juli 2005, war ich mit einer guten Musikkollegin auf dem Persgletscher (Berninagebiet bei Pontresina) unterwegs. Auf dieser Wanderung fragte sie mich, ob ich Lust hätte, mit ihr zusammen eine neue Musikgruppe zu gründen. Dabei ging mir der Gedanke durch den Kopf, mit einem eigenen Projekt das oben vorgestellte Handlungsmodell inmitten der wunderschönen Gletscherlandschaft des Berninagebietes zu testen. Ich wollte herausfinden, ob die Musik einen Weg darstellen könnte, um die immer grösser werdende Kluft zwischen dem Wissen über Gletscher und dem dazu wünschbaren Handeln für die Gletscher zu verringern. Aus dieser Absicht heraus entstanden die Swiss Ice Fiddlers. Und plötzlich wurden SAC-Hütten, Gletscherhöhlen oder glitzernde Eisflächen zu bewegten Konzertorten, die auf das Publikum eine motivierende Wirkung haben.
Durch die gesammelten Erfahrungen auf dem Gletscher mit den Swiss Ice Fiddlers wurde mir für meinen Lehrauftrag an der ETH Zürich klar, dass gute Umweltlehre nicht am generierten Umweltwissen, sondern dem beobachtbaren Umwelthandeln gemessen werden muss. Wie besprochen braucht es dafür Motivation, doch wie wird dies in der Umweltlehre gehandhabt? Bisher bildete ein Grundmittel die Mahnfingerpädagogik sowie Noten, wobei sich hier die Frage stellt, wie dies für ein von innen motiviertes Umwelthandeln förderlich sein soll. Aus diesem Grund war für mich ein vom Schweizerischen Nationalfond gefördertes Forschungsprojekt über einen Wirksamkeitsvergleich zwischen In- und Outdoor Unterricht zum Thema Klimawandel im Oberengadin wegweisend. Hierbei konnte gezeigt werden, dass handlungs- und erlebnisorientierter Outdoor Unterricht die Handlungsmotivation signifikant langfristig steigert. Damit glaubte ich einen Weg für den Aufbau von Handlungsmotivation durch eine gute Umweltlehre gefunden zu haben. Wenn also in einer (Aus-) Bildungssituation die Handlungsmotivation gesteigert werden kann und durch Wissensaufbau und der Identifikation von Handlungsmöglichkeiten Handlungsabsichten entstehen können, dann bestehen die besten Voraussetzungen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln verringern zu können. Motiviert integrierte ich dieses neue Wissen bei meinem Lehrauftrag an der ETH Zürich, um meinen Beitrag bei der teilweise fehlgeleiteten Umweltlehre zu leisten und dadurch mehr Menschen zum Handeln zu bringen.
Doch wie sich später herausstellte, blieb es nicht bei dieser Interaktion und deren Folgen zwischen dem Handlungsmodell und mir. Das Handlungsmodell hatte es mir angetan und wurde immer wieder relevant in meinem Leben, so auch im August 2015 am Rande des mit Gletschervlies zugedeckten Diavolezza Gletschers. Der Direktor der Oberengadiner Bergbahnen berichtete mir damals, dass seit dem Jahr 2007, dem Zeitpunkt als zum ersten Mal im Sommer der sterbende Diavolezza Gletscher mit Gletschervlies zugedeckt wurde, das Eis an gewissen Stellen wieder 10 bis 15 Meter dicker geworden sei. Die Begeisterung über diese Neuigkeit konnte ich später am Mittagstisch der Academia Engiadina nicht verbergen. Schnippisch stichelte der CEO der Academia Engiadina, dass wenn ich als Glaziologe etwas taugen würde, mir es gelingen sollte, den Morteratschgletscher zu schützen. Angesichts der unvorstellbaren Masse von rund 1,5 Milliarden Tonnen erschien mir dies unmöglich, worauf er wiederum konterte, dass ich zu den Wissenschaftlern gehöre, die nur über Probleme berichten würden.
Am nächsten Tag während dem Angeln am mit Schmelzwasser gefüllten Inn, schweiften meine Erinnerungen zu einem Spruch, den ich mehrmals während dem Studium hörte, welcher lautet: «Unsere Kinder werden uns nicht fragen, ob wir anhand der schmelzenden Gletscher nicht gesehen hätten, was mit dem Klima passiert, sondern, wie wir gehandelt hätten». Inspiriert von diesem Spruch überlegte ich, ob es nicht wenigstens theoretisch möglich wäre, den Gletschern zu «helfen». Ohne sich dessen bewusst zu sein, verwandelte sich durch die Erlebnisse des Vortages plötzlich meine Handlungsmotivation in einen Funken Handlungsabsicht. Und die Idee des Schmelzwasser-Recyclings entstand: Wie wäre es, wenn wir das reichlich anfallende Schmelzwasser im Sommer ganz oben behalten und im Winter in Form von Eis wieder dem Gletscher zurückgeben würden? Doch damit nicht genug, denn kurz nach den ersten Überlegungen zu meiner Handlungsabsicht erweiterte der weltbekannte holländische Glaziologe Johannes Oerlemans aus Utrecht bei einer Probe des zweiten musikalischen Gletscherkindes «Tango Glaciar» diesen Funken. Sein Vorschlag: Wenn das gesammelte Schmelzwasser ohne den Einsatz von elektrischer Energie zu Schnee umgewandelt werden würde, könnte ein hocheffizienter Gletscherschutz entstehen.
Diese Überlegungen und Ideen stellten die Geburtsstunde des MortAlive Projekts dar. Durch das Bewusstsein, wie wichtig ein solcher Gletscherschutz für trockene Bergregionen sein wird, finanzierten innerhalb von kurzer Zeit die Gemeinde Pontresina, die Region Maloja und der Kanton Graubünden die ersten wissenschaftlichen Studien und Experimente rund um das MortAlive Projekt. Und so wie vor 30 Jahren das Geigenüben plötzlich zum lustvollen Handeln wurde, entstand ein stark motiviertes und handelndes Projektteam. Die Graubündner Kantonalbank finanzierte im Rahmen ihres 150 Jahre Jubiläums die erste Ingenieurstudie zu diesem visionären Projekt und im neuen Besucherzentrum „VR Glacier Experience“ an der Talstation Diavolezza wird die MortAlive Idee erklärt und vorgestellt. Gleichzeitig wird in einem durch die Schweizerische Innovationsförderagentur Innosuisse finanzierten Projekt zusammen mit vier Fachhochschulen (Graubünden, Luzern, Nordwestschweiz, Ost) und zwei Industriepartnern (Bartholet in Flums und Bächler Top Track in Emmenbrücke) die für den Gletscherschutz notwendige Schneiseil-Technologie entwickelt.
Dabei ermöglichte der Daniel Karbacher Fond den Bau der ersten Experimentieranlage, die im Winter 2020⁄21 zum ersten Mal in Betrieb genommen werden konnte. Nicht weniger von Bedeutung ist auch der im Verlauf der letzten 4 Jahre entstandene Kontakt zu mutigen Menschen aus Ladakh im Himalaya (Nordindien), die aufgrund zunehmender Wasserknappheit mit ihren Ice Stupas bereits heute handeln. Auch hier zeigt sich, dass Handeln für die Zukunft grosse Freude bereiten kann und so wünsche ich mir, dass Musik in unseren Herzen entsprechend dem unscheinbar anmutenden integrierten Handlungsmodell uns zu einem wirkungsvollen Klimaschutz-Trend motivieren mag. Bei diesem Trend dürfen wir einmal problemlos übertreiben, oder wie Steven Covey die ganze Geschichte treffend zusammenfasst: «Be a part of the solution and not of the problem.»