Jérèmie Heitz

Über dem Abgrund

Eine Geschichte über Jérémie Heitz von Ursi­na Haller, geschrieben für die NZZ am Sonntag

2015 erstellt der Extrem­ski­fahrer Jérémie Heitz eine Liste: 15 Routen an den höch­sten, steil­sten Alpengipfeln. Er wagt, was vor ihm kein Men­sch geschafft hat – und reüssiert.

Er zieht sich die steile Nord­wand des Ober­ga­bel­horns hoch, mit Eispick­eln in den Hän­den und Steigeisen an den Füssen. Jérémie Heitz ist alleine und ungesichert unter­wegs, rund 1200 Meter unter ihm klafft ein Gletsch­er­schlund. Die Ski, mit denen er später über den 55 Grad steilen Eis­hang rasen wird, trägt er auf dem Rück­en. Der 27-Jährige sagt: «Das ist, wie wenn man die Treppe zur Migros hochgeht.»

Wie kann Heitz, der noch jünger aussieht, als er ist, in dieser Sit­u­a­tion Scherze machen? Ein falsch­er Tritt, ein Kon­trol­lver­lust – das wäre fatal. Aber vielle­icht macht Heitz gar keinen Witz, wenn er von der Migros redet. Vielle­icht denkt er sich tat­säch­lich in den plat­ten All­t­ag, um den Auf­stieg am Vier­tausender durchzuste­hen. Vielle­icht kommt Heitz aber das Einkaufen auch deshalb in den Sinn, weil seine Gedanken kurz zu sein­er Liste wan­dern, als er da klettert.

Die Liste, die er von Hand geschrieben hat, mit grü­nen Häkchen hin­ter jenen Din­gen, die er bere­its erledigt hat. Ein Zettel, wie ihn manche in den Super­markt mit­nehmen. Nur geht es bei Heitz nicht um Milch, Brot oder Zah­n­pas­ta. Auf sein­er Liste ste­hen 15 Routen an den höch­sten Alpengipfeln, so steil und exponiert, dass eine Ski­ab­fahrt unwirk­lich erscheint.

Heitz’ Ziel: genau das zu tun, in flüs­si­gen Schwün­gen, aggres­siv­er und mit weit mehr Tem­po als die Freerid­er, die vor ihm eine Abfahrt wagten. Bis zu 120 km/​h schnell will er sein. Jérémie Heitz, aufgewach­sen in Les Maré­cottes nahe Mar­tigny, fährt Ski, seit er laufen kann. Bis er 16 Jahre alt ist, will er Skiren­n­fahrer wer­den, er trainiert im Region­alka­d­er der Alpinen, seine Speziald­iszi­plin ist Riesenslalom.

Weil an den Ren­nen der Erfolg aus­bleibt, hört er auf. Und konzen­tri­ert sich for­t­an auf das, was ihm am besten gefällt: schnell Ski fahren, aber nicht auf der Piste, son­dern im freien Gelände. Damit schlägt Heitz jenen Weg ein, den er für sich als «den natür­lichen» beze­ich­net. Er ist in ein­er Alpin­is­ten­fam­i­lie aufgewach­sen, der Gross­vater fuhr sein­erzeit mit Syl­vain Saudan Ski, dem Grün­der­vater des Extremskifahrens.

«Es beein­druck­te mich, dass das Freeri­den in steilem Gelände, so wie es heute auch in Alas­ka oder im Himala­ja gemacht wird, seine Anfänge bei uns hat­te», sagt Heitz. Und er nimmt sich vor, den Pio­niergeist der Wal­lis­er Extrem­ski­fahrer fortzuführen. Als er 20 Jahre alt ist, begin­nt Heitz, an den Wet­tkämpfen der Freeride World Tour teilzunehmen. «Ich brauchte das, um mein Ski­fahren weit­erzuen­twick­eln. Nir­gends ist das Freeri­den so dur­chor­gan­isiert und so sich­er wie auf der Tour», sagt er.

Im ver­gan­genen Win­ter wurde Heitz Zweit­er in der Gesamtwer­tung. Er sagt, die Wet­tkämpfe habe er nicht aus Ehrgeiz gemacht. Vielmehr habe er Erfahrun­gen im Gelände sam­meln und ver­ste­hen wollen, wie sein Kör­p­er in Extrem­si­t­u­a­tio­nen reagiere. Er habe jene men­tale Stärke entwick­eln müssen, die er für seine bish­er grösste Her­aus­forderung brauchte: die Liste.

Spencer Couloir, Grand Com­bin de Val­sorey, Ober­ga­bel­horn – das sind 3 von 15 Abfahrten an den höch­sten Bergen der West­alpen, die Heitz Anfang 2015 auf einen Zettel schreibt. Um sein Vorhaben zu doku­men­tieren, tut er sich mit ein­er Film­crew zusam­men. Auch den Zer­mat­ter Extrem­berg­steiger Samuel Anthamat­ten holt Heitz mit ins Boot.

Die bei­den Fre­unde schauen sich die Steil­wände aus der Luft an, analysieren die Schneebe­din­gun­gen und suchen mögliche Lin­ien für die Abfahrt. «Nur im Früh­som­mer, wenn es unten im Tal warm wird und die Vier­tausender mit kom­pak­tem Schnee bedeckt sind, sind die Voraus­set­zun­gen für Steep­ski­ing gegeben», sagt Heitz.Meteorologische Nuan­cen bes­tim­men, ob eine Abfahrt zu wagen ist. Deshalb waren er und Anthamat­ten im let­zten und vor­let­zten Som­mer allzeit ein­satzbere­it. Auch deshalb entsch­ied sich Heitz für die Routen in sein­er Heim­re­gion: Zu Hause ste­he er weniger unter Zeit­druck als etwa bei ein­er Expe­di­tion in Alas­ka. Das sei ein wichtiger Fak­tor, wenn man die Risiken min­imieren wolle.Ob das Befahren eines Hanges wirk­lich möglich ist, das zeige sich aber erst beim Auf­stieg. Um die Bedin­gun­gen zu prüfen, steigt Heitz dort hoch, wo er später run­ter­fahren will. «Um mit Tem­po zu fahren, muss der Schnee über die ganze Wand hin­weg ähn­lich sein. Sobald man schnell wird, ist Impro­vi­sa­tion schwierig.»Binnen zwei Jahren schaffte Heitz 11 von 15 geplanten Routen – so viele, wie sie Steep­ski­er nor­maler­weise in einem ganzen Leben machen. Wie in seinem eben erschienen Film «La Liste» zu sehen ist, fährt Heitz die Steil­hänge tat­säch­lich so schnell und aggres­siv, wie man es bish­er nicht kan­nte. Wo seine Vorgänger zehn Kur­ven zogen, macht Heitz zwei oder drei. Was er dabei spüre? «Das, was wir alle fühlen, wenn wir nicht genau wis­sen, was im Leben als Näch­stes auf uns zukommt.»

Jérèmie Heitz

Jérémie Heitz, geboren 1989 im Wal­lis, ist ein pro­fes­sioneller Freeski­er. Für seinen Doku­men­tarfilm «La Liste» fuhr er fün­fzehn 4000er in den Alpen hin­unter und erre­ichte dabei Geschwindigkeit­en von teil­weise über 100 Stundenkilometern.

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Jérèmie Heitz

Jérémie Heitz, geboren 1989 im Wal­lis, ist ein pro­fes­sioneller Freeski­er. Für seinen Doku­men­tarfilm «La Liste» fuhr er fün­fzehn 4000er in den Alpen hin­unter und erre­ichte dabei Geschwindigkeit­en von teil­weise über 100 Stundenkilometern.

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