
Mit dem Lauf des Lebens
Von Caroline Fink
Aus: ERSTE am SEIL / Pionierinnen in Fels und Eis von Caroline Fink und Karin Steinbach
© 2013 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck / ISBN 978−3−7022−3252−8
Nicole Niquille sitzt am Holztisch in der Wohnstube ihres renovierten Bauernhauses. Sie deutet durch eines der grossen Fenster hinaus zu einem Wäldchen. Da, genau da, sei es passiert, sagt sie. In diesem Wäldchen, das am Fuss einer Felswand steht, hat sich das Leben von Nicole Niquille für immer verändert.
Es war der 8. Mai 1994, als sie in diesem Wäldchen mit ihrem damaligen Mann Pascal und einem Freund Pilze sammeln ging. Sie erinnert sich daran, dass es an diesem Tag regnete und sie eine Tüte Morcheln in der Hand hielt. Und sie erinnert sich daran, dass sie glücklich war. «Danach ist nur noch schwarze Nacht», sagt sie. Alles Weitere kenne sie nur aus Erzählungen der anderen: Ein Stein der Grösse einer Walnuss traf sie am Kopf – Schädelbruch, Rettungskolonne, Helikopter, Universitätsspital Lausanne. Drei Tage sei sie dort im künstlichen Koma gelegen. Diagnose: Schädelhirntrauma mit Schädigung des Hirnareals, das für Bewegung zuständig ist.Es war Ironie des Schicksals, denn Nicole Niquille hatte vor dem Unfall Risiken nicht eben gescheut. Nachdem sie das Klettern in den Gastlosen entdeckt hatte, dauerte es nicht lange, und sie stieg im Montblanc-Gebiet durch die Brenvaflanke und über den Frendopfeiler, war bei Erstbegehungen in den Aiguilles Rouges mit von der Partie, beging die Engländerroute am Trollryggen in Norwegen und unternahm Expeditionen zum Everest und K2. Die Berge füllten ihr Leben aus, und 1986 wurde sie die erste Bergführerin der Schweiz. Eine Pionierleistung, wenn man bedenkt, dass Frauen in der Schweiz erst 1971 das Stimmrecht erhielten und bis 1980 vom Schweizer Alpen-Club SAC ausgeschlossen waren. Mittlerweile, mehr als 25 Jahre nach ihrer Bergführerprüfung, hat der Schweizer Bergführerverband Nicole Niquilles Pioniertat mit einer seiner seltenen Ehrenmitgliedschaften gewürdigt.
Wie die erste italienische Bergführerin Renata Rossi sah auch Nicole sich damals nicht als Pionierin. «Mir wurde erst durch die Aufmerksamkeit der Medien bewusst, dass das etwas wirklich Spezielles war», erzählt sie. Denn eigentlich wollte die junge Frau mit den blonden zerzausten Haaren und dem wachen Blick einfach Bergsteigen und in den Bergen arbeiten. Das Einzige, was sie bei der Anmeldung zum Bergführerkurs deshalb beschäftigt habe, sei die Frage gewesen, ob sie gut genug wäre. «Aber eine Geschlechterfrage war das für mich nicht.»
Nicole Niquille ist einfach ihren Weg gegangen, ohne sich um die Meinung anderer zu scheren. Auch damals schon, als sie mit dem Klettern begann: Knapp zwanzigjährig, empfahl ihr Physiotherapeut der jungen Frau «einen sanften Sport», um sich von einem Mopedunfall zu erholen. Sie entschied sich für das Klettern. Ein Sport, der der angehenden Lehrerin so gefiel, dass sie fortan jede freie Minute am Fels war, dort Freunde fand, die auch kletterten, und sich bald in diesen jungen, grossen Mann verliebte, der drei Jahre jünger war als sie und schon als sehr talentierter Alpinist galt: Erhard Loretan. Er sollte zum bekanntesten Schweizer Höhenbergsteiger der letzten Jahrzehnte werden, bis er 2011 an einem einfachen Viertausender im Berner Oberland ums Leben kam.Damals aber konnten weder Erhard noch Nicole ahnen, was das Leben noch an Glück und Unglück bringen würde. Sie waren jung, wollten klettern und hatten einen Deux-Chevaux. Mit diesem waren sie erst im Greyerzerland, im Wallis und in Südfrankreich unterwegs. Dann zog es sie weiter in die Ferne, zu den Achttausendern des Himalaja. Und, wie könnte es anders sein, machte Nicole Niquille auch damals keine halben Sachen: Ihre erste Expedition führte sie gleich zum schwierigsten Achttausender der Welt, dem K2 an der pakistanisch-chinesischen Grenze. Unterwegs auf der Abruzzi-Route erlitt sie – vielleicht infolge des Mopedunfalls in jungen Jahren – oberhalb von Camp 3 auf 7400 Meter Höhe eine Venenentzündung im linken Bein, was sie zum Abstieg zwang. Dass sie den Gipfel nicht erreichte, machte ihr indes nichts aus. «Der K2 war ein wunderschönes Erlebnis», sagt sie rückblickend.
Noch heute hängt am Büchergestell in der Wohnstube eine kleine Strickleiter. Erhard habe sie gebastelt, und auf schwierigen Routen sei sie zum Einsatz gekommen. «Mit Erhard war einfach alles möglich.» Auch während der Bergführerausbildung sei er ihr grösster Mentor gewesen. Ohne ihn, sagt sie, hätte sie diese Ausbildung kaum geschafft. Denn sie war kein Pappenstiel, nicht einmal für eine erfahrene und talentierte Bergsteigerin wie Nicole. Alserste Frau sei sie zudem besonders hart getestet worden, habe etwa mit ihrer Gruppe im Schneebiwak schlafen müssen, während die anderen in der Hütte waren, und bei der Prüfung zur Spaltenrettung auf dem Gletscher hätten die Experten ihr den Schwersten – «der war gut hundert Kilo schwer!» – ans Seil gehängt. Eine Ungerechtigkeit, mögen andere denken. Aber Nicole Niquille beklagt sich nicht darüber. Sie sei die Erste gewesen und deshalb härter geprüft worden. «Et alors?» – na und?, sagt sie. Das sei doch normal. „lch musste einfach besser sein als die anderen.“
Sie hat die Prüfung zur Bergführerin so angenommen, wie sie war. Genau so, wie sie jede Prüfung in ihrem Leben angenommen hat. Auch jene, die ihr das Schicksal 1994 stellte, nach dem Unfall im Wäldchen hinter dem Haus: Zwanzig Monate war sie im Rehabilitationszentrum Basel, lernte wieder zu sprechen und sich nach und nach zu bewegen. Am Anfang, sagt sie, sei es schwierig gewesen. In diesen Nächten, als sie keine Minute schlafen konnte und sich gefragt habe: «Warum ich, warum jetzt?» Sie war Ende dreissig, seit einem Jahr mit Pascal verheiratet und hatte sich Kinder gewünscht. Dennoch erinnert sie sich auch gern an die Zeit in Basel zurück. Eine Zeit, in der viele Menschen sieunterstützt hätten und in der sie trotz allem Momente des Glücks gefunden habe. Immer noch hängt an der Decke des renovierten Bauernhauses eine Sonne aus Pappmaschee – ein Meter Durchmesser, leuchtend gelb und orange mit einem lachenden Gesicht. Sie hat sie in der Reha in Basel gebastelt.
Heute lebt die erste Bergführerin der Schweiz einen erfüllten Alltag. Denn auch im Rollstuhl blieb sie jene Nicole, die keine halben Sachen macht. «Bei allem, was sie tut, hat sie immer hundert Prozent gegeben», sagt etwa Jean-François Robert, ein alter Kletterfreund aus Jugendzeiten über sie. «Sie hatte immer schon diese unglaubliche Energie.» In den letzten Jahren hat Nicole Niquille denn auch die Wirtefachprüfung gemacht, das Restaurant «Chez Nicole» am Lac de Tanay in den Walliser Alpen eröffnet, ihren zweiten Mann Marco Vuadens kennenglernt und geheiratet, gemeinsam mit ihm die «Pasang Lham & Nicole Niquille Stiftung» gegründet und dank dieser ein Spital im nepalesischen Bergdorf Lukla aufgebaut. Sie scheint nie müde zu werden. Und auf die Frage, ob sie trotz Rollstuhl selbst nach Lukla reise, sagt sie nur: «Mais bien sûr!» – ja klar! «Mindestens zweimal pro Jahr.»Das «Chez Nicole» verkaufte sie, für die Stiftung arbeitet sie nach wie vor drei bis vier Stunden pro Tag. Tritt an Veranstaltungen auf, informiert über die Situation der Menschenin Nepal u.v.m.
„Man muss einfach die Augen offen haben und mit dem Leben gehen.“ So simpel ist Nicole Niquilles Rezept zum Glück.