Mein Neuntausender
Von Geri Winkler
Die letzten Schritte, noch wenige Meter bis zum Gipfel! Es sind nie die letzten Schritte, die mich Überwindung kosten, es ist immer der erste Schritt, der Aufbruch aus der Komfortzone des Alltags hinaus in ein Abenteuer, von dem ich nicht weiss, wohin es mich führen wird. Der nächtliche Aufbruch, das Öffnen des Schlafsacks im frostigen Zelt, das Anlegen der Steigeisen mit eisig klammen Fingern, oder aber der Beginn einer monatelangen Tour, die grosse Hürde vom „Ich will!“ zum tatsächlichen Aufbruch.
Warum ist aller Anfang so schwer? Ich kann es selbst nicht verstehen. Bin ich erst einmal unterwegs, dann bin ich bereits dort, wovon ich geträumt habe – mitten im Abenteuer.
Im Rahmen einer Trekkingtour habe ich 1984 den Mount Everest erstmals mit eigenen Augen gesehen. Faszination! Seitdem hat mich dieser Berg nicht mehr losgelassen! Warum er mich so sehr in seinen Bann gezogen hat? Vermutlich, weil er eben der höchste ist und weil sich eine Unzahl packender Abenteuer und Mythen um seine Besteigung ranken. Everest-Bücher habe ich regelrecht verschlungen. Lesen und träumen – damit musste ich mich auch begnügen, denn wenige Monate nach meinen Erlebnissen im Himalaya wurde ich Diabetiker – täglich mehrere Insulinspritzen, täglich mehrere Blutzuckermessungen. An aufregende Berg- und Reiseabenteuer durfte ich nicht mehr denken – vorerst einmal!
Die Jahre vergingen, ich bekam meinen Diabetes immer besser in den Griff, konnte wieder aufbrechen, hinaus in die weite Welt – Trekking, wochenlange Radtouren, auch an hohen Bergen sammelte ich Erfahrung. Nach der Besteigung einiger Siebentausender begann ich zu träumen. Ist der Gipfel der Welt zu gross für mich? Wissen werde ich es erst dann, wenn ich ihn versucht habe.
Ist es überheblich, mehr als nur den Mount Everest zu wollen, sich nicht mit diesem Kampf in Fels und Eis zu begnügen? Ich träumte von der Langsamkeit des Seins, von bunten Erlebnissen und vielfältiger Natur, von fremden Kulturen und Musse für menschliche Begegnungen – und auch von Chomolungma, dem göttlichen Berg, den die Europäer Mount Everest nennen. Gibt es eine Route, die all diese Sehnsüchte stillen kann?
Meinen Aufstieg wollte ich nicht im Basislager beginnen, sondern Tausende Kilometer davon entfernt am Toten Meer in Jordanien, 420 Meter unter dem Meeresspiegel – dem tiefsten erreichbaren Ort der Erde! Es waren nicht nur die 9‘270 Höhenmeter, die es zu überwinden galt, es waren vor allem die 8‘500 Kilometer quer über den Erdball, die den grossen Reiz dieser Tour ausmachen sollten.
Wieder war es der erste Schritt, den ich lange hinauszögerte. Ende September 2005 raffte ich mich auf, ging ins Büro der Fluglinie und kaufte ein Ticket nach Amman in Jordanien – one way.
Kein Handy, kein Laptop, kein GPS, nicht einmal ein Etappenplan, nur Unmengen an Zeit – so startete ich wenige Tage später am Ufer des Toten Meeres meinen endlosen Aufstieg, mehr als 8‘000 Kilometer durch faszinierende Welten. Die Menschen entlang des Weges begegneten mir mit warmherziger Gastfreundschaft, beherbergten und bewirteten mich in ihren Häusern und Hütten. Erlebnisse in starkem Kontrast zu dem, was ich aus den Medien über Länder wie Syrien, Iran oder Pakistan erfahren hatte.
Tausende Kilometer im Sattel des Fahrrades durch die Wüsten des Nahen Ostens und die Bergwelt Kurdistans, durch den Iran mit seinen Kulturschätzen und traditionellen Städten und Dörfern, durch die Wüste Belutschistans und quer durch das quirlige Indien bis ins Himalaya-Massiv – all das gehörte zu meinem grossen Traum vom Aufstieg auf den Mount Everest.
Dreieinhalb Monate nach meinem Aufbruch erreichte ich Kathmandu, wenige Tage später das Dorf Jiri am Ende der befahrbaren Strasse. Von hier aus folgte ich zu Fuss den Spuren der Erstbesteiger – faszinierende Pfade durch malerisch gelegene Dörfer hinauf zu den Bergen der Götter. Ende März traf ich im Sherpa-Dorf Namche Bazar auf mein Expeditionsteam, das Abenteuer an den Flanken Chomolungmas konnte beginnen.
Viele behaupten, Emotionen, Freude und Genuss gebe es in 8‘000 Metern Höhe nicht. Es gibt sie doch! Eine messerscharfe Firnschneide, die zu beiden Seiten Tausende Meter in die Tiefe abbricht – ausgesetzt führt sie hinauf zum höchsten Punkt der Erde. Die Sonne über Tibet tauchte die Kangshung-Wand in zauberhaftes Gold. Riesige Wechten hingen über ihrem fast senkrechten Abgrund. Trotz Atemlosigkeit pure Faszination auf diesem exponierten Grat. Vor mir ragte eine Felsstufe fast senkrecht in die Höhe – der legendäre Hillary-Step, einer der luftigsten Orte dieser Erde. Nur an wenigen Unebenheiten im Fels fanden die Zacken der Steigeisen Halt. Ich geriet ausser Atem. Kein Platz zum Rasten!
Ich erstieg eine der kleinen Kuppen im Gipfelgrat, vor mir eine noch höhere Erhebung, nur etwa 80 Meter entfernt – im Schnee leuchtete das Bunt tibetischer Gebetsfahnen – der letzte Gipfel dieser Erde! Gewaltige Emotionen, farbenfrohe Bilder von einem siebenmonatigen Aufstieg flimmerten durch meine Gedanken. Nein, die letzten Schritte kosteten mich keine Überwindung, bewusst langsam stieg ich weiter, ich wollte sie geniessen – Momente, die einfach zu schön waren, um sie eilig vorübergleiten zu lassen!