NANGA PARBAT
HIMMEL, HÖLLE, HIMALAJA
Von Reinhold Messner
Bis 1969 war ich ein besessener Alpen-Bergsteiger gewesen. Ich war ganze Sommer lang nur geklettert. Das Geld, das ich dafür brauchte, verdiente ich mir als Bergführer. Dann und wann hielt ich auch einen Vortrag. Aber jede freie Minute verbrachte ich beim Training oder in irgendeiner schwierigen Alpenwand. 1968, als eine deutsche Expedition an der Rupal-Wand des Nanga Parbat gescheitert war, packte mich erstmals Begeisterung für diese Achttausender. 1969 gelang es mir, die schwierigste Wand der Ostalpen, die damals berüchtigte Philipp/Flamm-Verschneidung, während eines Unwetters allein zu durchsteigen. Auch die schwierigste Wand der Westalpen, die Droites-Nordwand, kletterte ich frei solo. Die Alpen waren zu klein für mich geworden. Dies war kein überhebliches Gefühl; es steckte die Sehnsucht dahinter, meine Grenze weiter auszudehnen, die Neugierde eines jungen, in vieler Hinsicht unerfahrenen Menschen. Wie weit ich noch gehen konnte? In diesem Sommer 1970 stand die Rupal-Wand des Nanga Parbat auf Platz eins meines bergsteigerischen Wunschzettels. Allerdings wusste ich nicht, wie ich je dorthin kommen könnte. Als Südtiroler wurde ich weder als »deutscher« noch als »österreichischer« und auch nicht als »italienischer« Bergsteiger geführt. Ich wurde also von keiner Expeditionsgruppe angesprochen oder gar eingeladen. Im Frühling 1969 war ich als Ersatzmann von einer Nordtiroler Expeditionsgruppe unter Leitung von Otti Wiedmann in die Anden nach Südamerika eingestellt worden, vorerst aber sah ich keine Möglichkeit, bei einer Achttausender-Expedition mitzukommen.
Ich hatte auch nicht die finanziellen Mittel, selbst eine Expedition auf die Beine zu stellen. Da gab es zwar von der Firma Millet aus Frankreich ein erstes Werbeangebot, mit der entsprechenden Jahrespauschale aber konnte ich weder mein Leben noch eine Expedition finanzieren. Ich arbeitete sehr viel. Zum Glück gab es damals » Vorbilder«: Bergsteiger, die ihr Leben teilweise aus Werbeverträgen finanzierten. Einer von ihnen war Walter Bonatti. An ihm orientierte ich mich. Meinen ersten Werbevertrag ließ ich nach seinen Vorgaben ausarbeiten. Als mir Walter Bonatti sein letztes Bergbuch »Die großen Tage« mit den Zeilen widmete: »Für Reinhold Messner, der jungen, letzten Hoffnung des großen, klassischen Bergsteigens«, gab mir das viel Selbstvertrauen. Als Südtiroler hatte ich sonst auch emotional wenig Rückhalt. Wichtig war es, dass wir jungen Bergsteiger uns an Männern wie Bonatti auch praktisch orientieren konnten.
Der Himalaja erschien mir damals als ein Traum, eine Art Himmel für den Bergsteiger. Deshalb die Skepsis neben der Überraschung, als mich der deutsche ExpeditionsorganisatorDr. Karl M. Herrligkoffer im Herbst 1969 zu einer Nanga-Parbat-Südwand-Expedition einlud. Er nannte sein Unternehmen »Siegi-Löw-Gedächtnisexpedition«. Traurig war ich nur, dassmein Bruder Günther, der mich bis dahin bei den meisten Erstbegehungen in den Alpen begleitet hatte, nicht auch mit von der Partie sein sollte. Nachdem aber Sepp Mayerl und Peter Habeler, die ebenfalls auf der Einladungsliste gestanden hatten, ausfielen, kam auch mein Bruder in die Mannschaft.
In einer ziemlich grossen Expedition, mit erfahrenen deutschen und österreichischen Bergsteigern, kletterten Günther und ich im Mai und Juni 1970 etwa 40 Tage lang, mit Unterbrechungen, in der Südwand des Nanga Parbat. Meist waren wir an der Spitze der Gruppe. Wir kamen bis unter die Merkl-Rinne, an einen Punkt, den vor uns keine Mannschaft erreicht hatte. Öfter hatten uns Schlechtwetter und Lawinengefahr aus der Wand zurück ins Basislager getrieben. Einmal blieben Günther und ich mehr als eine Woche lang in der Wandmitte eingeschneit. Elmar Raab, Werner Heim, Gerhard Baur, Peter Vogler waren oft bei uns. Wie oft hatten wir geglaubt, dass die Expedition scheitern würde. Schließlich sollte nach langer Diskussion mit dem Expeditionsleiter ein letzter Versuch gewagt werden. Günther, Gerhard Baur und ich stiegen noch einmal zum letzten Lager auf, wo Felix Kuen und Peter Scholz auf etwa 7300 Meter ein Zelt aufgestellt hatten. Von dort aus erreichten wir am 27. Juni, zuerst getrennt, im letzten Stück gemeinsam kletternd, den Gipfel des Nanga Parbat. Die Rupal-Wand, die höchste Fels- und Eiswand der Erde, war durchstiegen. Sicherlich hatten wir beide in der letzten Anstiegsphase die Grenze unserer Leistungsfähigkeit erreicht. Wir waren in unserer jugendlichen Begeisterung weiter gegangen, als ich es heute tun würde.
Wir kamen spät zum Gipfel. Mein Bruder war sehr müde. Erste Zeichen der Höhenkrankheit stellten sich bei ihm ein. Beim Abstieg merkte ich, dass er nicht mehr weit kommen würde. Es wäre unverantwortlich, ja unmöglich gewesen, ihn in diesem Zustand die Rupal-Wand hinabzulotsen. Vor allem, weil wir kein Seil dabei hatten. Ich hätte Günther also nicht sichern können. Er wäre beim Abstieg gewiss irgendwo aus der Wand gefallen. An diesem späten Nachmittag, bei aufkommendem Gewölk, entschloss ich mich kurzfristig, mit Günther ein Stück in die Westflanke abzusteigen, in die Scharte unmittelbar oberhalb der Merkl-Rinne. Von dort aus glaubte ich, am nächsten Tag in die Rupal-Wand zurückkehren zu können. In der Hoffnung, dass andere Bergsteiger aufsteigen würden, um uns zu helfen, warteten wir eine fürchterliche Nacht lang ab. Wir biwakierten in 8000 Meter Meereshöhe ohne jeden Schutz. Ohne Daunenjacke, ohne Sauerstoffgeräte, ohne zu trinken, ohne zu essen. Es war eine Nacht, die uns seelisch und körperlich aushöhlte.Am anderen Morgen sah ich kaum noch eine Chance, irgendwohin zu gehen, geschweige denn, bis an den Fuß des Berges zu gelangen. Nachdem wir etwa bis 10 Uhr vormittags gewartet hatten und erkennen mussten, dass Peter Scholz und Felix Kuen nicht zu uns, sondern zum Gipfel unterwegs waren, begannen wir in unserer Verzweiflung den Abstieg über die Diamir-Seite des Nanga Parbat. Ich war dem Wahnsinn nahe. Es war in diesem Augenblick, als ich hinfiel und mein Geist sich über den Körper erhob. Ich sah mich von außen den Berg hinabrollen. Noch einmal hatte ich die Energie, zurückzugehen in meinen Körper, ich musste den Bruder in Sicherheit bringen.
Die Diamir-Wand ist flacher als die Rupal-Wand. Von oben gesehen erschien sie machbar. Dabei war für uns das erste Stück ein momentaner Ausweg aus der Todessituation. Ich hätte das Sterben in Untätigkeit nicht ertragen können. Wir wollten wenigstens einen letzten, verzweifelten Versuch machen, ein Stück den Berg hinunterzukommen. Bis Mitternacht mühten wir uns ab. Immer wieder wartete ich auf Günther, um ihn zwischen Séracs und den Felsen der Mummery-Rippe hinunterzuleiten. Am dritten Tag dieses qualvollen Abstiegs – wir waren schon weit unten im flacheren Gletscher, und ich ging voraus, um nach dem Weg zu suchen – kam Günther nicht mehr nach. Erst als ich zurückging und die große Lawine sah, die inzwischen abgegangen war, ahnte ich, dass er darunter begraben liegen musste, dass ich allein war. Aber ich konnte nicht begreifen, dass er tot war. Er, der mich auf Hunderten von schweren Routen begleitet hatte, er sollte nicht mehr mit mir zusammen sein! Mit ihm hatte mich das Gefühl verbunden, gemeinsam unverwundbar zu sein. Warum ließ er mich auf diesem Weg durch Felsen, Eisbrüche und Hochtäler allein? Einen Tag und eine Nacht lang suchte ich nach ihm. Mitten in dieser gigantischen Gletscherwelt zwischen den Eistrümmern, ausgedörrt, mit Erfrierungen an Händen und Füßen erlebte ich erstmals den Wahnsinn. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, noch was ich tat. Ich konnte kaum noch gehen. Trotzdem setzte ich meinen Abstieg fort, kroch abwärts. Als ich zu Holzfällern kam, die mir den Weg ins Tal zeigten, erwachte ich aus einer Gleichgültigkeit, wie sie dem Sterben vorausgeht.
Ich brauchte viele Jahre, um diese Nanga-Parbat-Expedition und den Tod meines Bruders zu bewältigen. Seinen Tod als Teil meines Lebens zu verstehen. Ich musste erst lernen mit dieser Tragödie zu leben. Im Herbst 1970 wurden mir in der Universitätsklinik Innsbruck sechs Zehen und einige Fingerkuppen amputiert. Damals glaubte ich nicht, dass ich je wieder auf die Berge steigen könnte. Ich wollte auch gar nicht mehr. Ich war so niedergeschlagen und verzweifelt. Am Schmerz meiner Eltern und meiner Geschwister wurde mir bewusst, dass meine bergsteigerische Tätigkeit für die Familienangehörigen eine schwereBelastung gewesen war. Damals schon bat mich meine Mutter, keinen Achttausender mehr zu besteigen.
Bis zu diesem Jahr 1970 war ich einfach auf die Berge geklettert. Mit viel Ehrgeiz, mit dem Vorsatz, möglichst wenige technische Hilfsmittel einzusetzen, mit der Vorstellung, über alle bisherigen Grenzen hinauszugehen. Ich war meinen Weg gegangen. Ich hatte die alpine Geschichte studiert und daraus meine eigenen Ideen abgeleitet. Mit dem Verlust des Bruders wurde mir erstmals ganz bewusst, wie sehr das Bergsteigen mit dem Tod zusammenhängt, wie gefährlich es ist. Jeder Bergsteiger, der den Tod nicht als mögliche Konsequenz einer großen Tour versteht, ist ein Narr. Ich begriff aber auch, dass ich dieTragödie am Nanga Parbat nicht rückgängig machen konnte. Nach einem halben Jahr Pause fing ich mit dem extremen Bergsteigen wieder an. Bei null. Nach den Amputationen konnte ich im Fels nicht mehr so gut klettern wie früher. Also steckte ich all meine Begeisterung in die großen Berge, wo es in erster Linie Eis gibt.
1971 kehrte ich zum Nanga Parbat zurück, um nach meinem Bruder zu suchen. Im Basislager, im Halbschlaf, träumte ich, wie er auf dem Gletscher aufstand und zu mir ins Zelt kroch. Ich hatte die Tragödie immer noch nicht verarbeitet. 1973 ging ich erneut zum Nanga Parbat. Diesmal, um ihn allein zu besteigen. Ich wollte meinem Bergsteigen eine eindeutige Richtung geben. Allein, über eine schwierige Route und ohne technische Hilfsmittel wollte ich auf einen Achttausender klettern. Ich scheiterte.
1977, in einer privaten Lebenskrise, kam ich zum vierten Mal zum Nanga Parbat. Wieder mit dem Vorsatz, ihn allein zu erklettern. Wieder scheiterte ich. Ich scheiterte an der eigenen Schwäche, an der Angst vor der Angst, irgendwo da oben nicht mehr zurechtzukommen.Erst 1978, nachdem ich gelernt hatte, das Leben auch allein zu ertragen, nachdem mir bewusst geworden war, dass der Mensch ein Einzelwesen ist, nachdem ich aufgehört hatte, in Paaren zu denken, habe ich den größten Sprung meines Bergsteigerlebens gewagt. Allein und ohne jedes technische Hilfsmittel – ausgenommen natürlich Steigeisen, Pickel, Zelt und Schlafsack – stieg ich in die Diamir-Wand ein, kletterte eine neue Route bis zum Gipfel und kehrte über eine andere neue Route zurück ins Basislager.Dieser Alleingang begann im hinteren Diamir-Tal, etwa an der Stelle, wo ich 1970 am Gletscherrand verzweifelt auf meinen Bruder gewartet hatte. Am 7. August 1978, um 5 Uhr früh, stieg ich in die Wand ein. In wenigen Stunden durchkletterte ich die untere Wandhälfte und erreichte auf einer Höhe von ungefähr 6400 Metern eine kleine Plattform. Unter einer überhängenden Eisscholle erstellte ich mein Lager. Es war nur ein winziges Zelt, das ich eigens für diese Expedition hatte bauen lassen. Ich kroch in den Schlafsack, schmolz Schnee, um genügend trinken zu können. Ich genoss dieses Alleinsein, weil ich für niemanden verantwortlich war. Einen ganzen Tag lang rastete ich in diesem Zelt. Ich erholte mich gut.Am anderen Morgen um 5.02 Uhr – ich hatte mich gerade im Schlafsack aufgesetzt, um Tee zu kochen – gab es plötzlich eine Erschütterung. Wenige Sekunden später ein Krachen undTosen rings um mich her. Ich riss den Zelteingang auf, schaute hinaus und sah, dass von allen Flanken, links und rechts, über und unter mir gewaltige Schneemassen zu Tal stürzten. DieseSchneemassen sammelten sich unten zu einer einzigen Lawine. Mehrere Kilometer weit überflutete sie das Diamir-Tal.
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ein Erdbeben diese Eisstürze ausgelöst hatte. Die schmale Eiszunge, die ich am Tag vorher benützt hatte, um den mittleren Teil der Wand zu gewinnen, hatte sich von der Wand gelöst und war als Ganzes abgestürzt. Ich konnte also nicht mehr über den Weg zurück, den ich im Aufstieg genommen hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich einen Tag später unterwegs gewesen wäre.Trotz der Tatsache, dass mein Rückweg abgeschnitten war, kam so etwas wie Übermut auf. Im Bewusstsein, nur mit Glück überlebt zu haben, setzte ich meinen Weg fort. Als ob Glücksich potenzieren müsste. Ich kam mir vor wie ein Schatten, der nicht verwundbar war. Jetzt hatte ich keine Angst mehr. Es gab kein Zurück, es gab nur ein Nach-Vorn. In einem Zustand des Hochgefühls stieg ich weiter. Der Himmel über dem Nanga Parbat erschien mir als schwarze Unendlichkeit. Mit jedem Schritt nach oben tat er sich weiter auf. Er war nur noch unterbrochen von jenem Keil, der weiss verschneit gegen den schwarzen Hintergrund als Gipfel über mir aufragte.
Dieses Hineingetauchtsein in das Nichts an den großen Bergen hat mir mehr als alle anderen Erfahrungen und immer wieder die existentielle Problematik des Menschen vor Augen geführt. Warum sind wir da, woher und wohin? Ich fand keine Antwort; es gibt keine, wenn ich Religionen ausklammere. Nur das Aktivsein im Dasein hebt die wesentlichen Fragen des Lebens auf. Da oben habe ich mich nicht gefragt, warum ich das tue, warum ich da bin. Das Steigen, die Konzentration, das Sich-Aufwärtsmühen waren die Antwort. Ich selbst war die Antwort, die Frage war aufgehoben.
Am dritten Tag, dem 9. August, erreichte ich endlich den Gipfel. Ich hatte mich zuletzt durch tiefen Schnee hinaufgewühlt, streckenweise waren Felsen zu überklettern gewesen. Um zubeweisen, dass ich oben gewesen war, hinterließ ich ein Stück Papier mit Datum und Unterschrift. Aus Sorge, diesen Alleingang vor den zahlreichen Skeptikern durch Bilder nicht genügend dokumentieren zu können – eine kaputte Kamera, Nebel über den umliegenden Bergen – befestigte ich eine Aluhülle mit dem Dokument an einem Haken, den ich in die Gipfelfelsen schlug. Ich habe dies nur einmal an einem Achttausender getan. Später fand ich so etwas nicht mehr für notwendig, und früher war es nie möglich gewesen.Am gleichen Tag noch stieg ich zurück ins oberste Biwak. Das winzige Zelt stand auf einer Höhe von 7400 Metern in einer Schneemulde. Am nächsten Tag Schneetreiben, Nebel. DerAbstieg unmöglich. Neuschnee deckte alles zu. Einen Tag lang wartete ich. Im Rucksack hatte ich Essen und Gas für eine Woche. Ich brauchte mich nicht vom schlechten Wetter in dieEnge treiben zu lassen. Das Abwarten aber war sogar physisch schwieriger zu ertragen als das Steigen. Dazu kam diese ständige Angst vor allen nur denkbaren Gefahren. Beim Nichtstun im Zelt kamen mir erste Zweifel an der Überlebensmöglichkeit.
Was war, wenn es mehr und mehr schneite, wenn die Lawinengefahr unter mir unberechenbar wurde?Am zweiten Tag im Schlechtwetter nützte ich ein kurzes Aufreißen der Nebel unter mir, um mich zu orientieren. Dann stieg ich blindlings in den Abgrund hinein. Im dichten Nebel, ohne zu wissen, wohin ich stieg, kletterte ich geradewegs in die Tiefe. Mit dem Bewusstsein, dass der flache Gletscherboden 3000 Meter tiefer lag, war jetzt keine Angst mehr verbunden, nur der Wille durchzuhalten. In wenigen Stunden kletterte ich die gesamte Diamir-Wand hinunter. Am Mittag war ich auf dem Gletscherboden. Ich konnte es selbst nicht begreifen, dass ich kurz vorher noch weit oben in einer lebensgefährlichen Falle gehockt hatte. Immer noch verhüllten Nebel den Berg. Hoch oben schneite es.Im Basislager angekommen, erfüllte mich ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit. Nun hatte ich als Bergsteiger alles erreicht. Mehr als ich mir je erträumt hatte. Alfred Imitzer und Willi Bauer waren da, zwei österreichische Bergsteiger, denen ich von meinem Auf- und Abstieg erzählte. Ich zeigte ihnen meine Route, redete, redete, redete.Damals habe ich angefangen, meine Erfahrungen aus einem Bedürfnis heraus weiterzugeben. Meine Erfahrungen, was die Taktik am Berg angeht; mein Wissen, wie man eine Expedition finanziert; meinen Instinkt, wie man lebensgefährliche Situationen überlebt.
Meine ersten Artikel und Bücher hatte ich auch geschrieben, um meine Ideen darzulegen, nicht ohne Sendungsbewusstsein. Zudem musste ich Geld verdienen. Jetzt wollte ich erzählen. Ich hatte ja so viel erlebt. Obwohl ich bergsteigerisch voll befriedigt war, wollte ich den großen Alpinismus nicht aufgeben. Ich war ein junger Mann, hatte Lust weiterzuspielen.Seit meinem gelungenen Alleingang am Nanga Parbat habe ich das Bergsteigen nicht mehr mit tierischem Ernst betrieben; nicht mehr mit dem Ehrgeiz des jungen Felskletterers, der inden Dolomiten die schwierigsten Wände seilfrei durchsteigen wollte. Es war mir gelungen, meine kühnste Idee zu verwirklichen: ein Mann und ein Achttausender. Die Berge sollten mir weiterhin Spielmöglichkeiten sein, eine natürliche Bühne, um all meine Fähigkeiten, all meine Kräfte, all meine Instinkte ausdrücken zu können. Bei meiner ersten Expedition am Nanga Parbat hatte ich die «Hölle» erlebt. Bei meinem zweiten Aufstieg, im Alleingang, den «Himmel». Jetzt kannte ich den Himalaja.
Mit freundlicher Genehmigung von Piper für das Buch MASSIV 2021.
Quelle und Informationen:
Verlag: Piper
Imprint: Malik National Geographic
Autor: Reinhold Messner
Buchtitel: Überlebt
Untertitel: Meine 14 Achttausender
Erscheinungsjahr: 2013
ISBN: 9783492403764