NAN­GA PAR­BAT
HIM­MEL, HÖLLE, HIMALAJA 

Von Rein­hold Messner

Bis 1969 war ich ein besessen­er Alpen-Berg­steiger gewe­sen. Ich war ganze Som­mer lang nur gek­let­tert. Das Geld, das ich dafür brauchte, ver­di­ente ich mir als Bergführer. Dann und wann hielt ich auch einen Vor­trag. Aber jede freie Minute ver­brachte ich beim Train­ing oder in irgen­dein­er schwieri­gen Alpen­wand. 1968, als eine deutsche Expe­di­tion an der Rupal-Wand des Nan­ga Par­bat gescheit­ert war, pack­te mich erst­mals Begeis­terung für diese Acht­tausender. 1969 gelang es mir, die schwierig­ste Wand der Ostalpen, die damals berüchtigte Philip­p/Flamm-Ver­schnei­dung, während eines Unwet­ters allein zu durch­steigen. Auch die schwierig­ste Wand der West­alpen, die Droites-Nord­wand, klet­terte ich frei solo. Die Alpen waren zu klein für mich gewor­den. Dies war kein über­he­blich­es Gefühl; es steck­te die Sehn­sucht dahin­ter, meine Gren­ze weit­er auszudehnen, die Neugierde eines jun­gen, in viel­er Hin­sicht uner­fahre­nen Men­schen. Wie weit ich noch gehen kon­nte? In diesem Som­mer 1970 stand die Rupal-Wand des Nan­ga Par­bat auf Platz eins meines berg­steigerischen Wun­schzet­tels. Allerd­ings wusste ich nicht, wie ich je dor­thin kom­men kön­nte. Als Südtirol­er wurde ich wed­er als »deutsch­er« noch als »öster­re­ichis­ch­er« und auch nicht als »ital­ienis­ch­er« Berg­steiger geführt. Ich wurde also von kein­er Expe­di­tion­s­gruppe ange­sprochen oder gar ein­ge­laden. Im Früh­ling 1969 war ich als Ersatz­mann von ein­er Nordtirol­er Expe­di­tion­s­gruppe unter Leitung von Otti Wied­mann in die Anden nach Südameri­ka eingestellt wor­den, vor­erst aber sah ich keine Möglichkeit, bei ein­er Acht­tausender-Expe­di­tion mitzukommen.

Ich hat­te auch nicht die finanziellen Mit­tel, selb­st eine Expe­di­tion auf die Beine zu stellen. Da gab es zwar von der Fir­ma Mil­let aus Frankre­ich ein erstes Wer­beange­bot, mit der entsprechen­den Jahres­pauschale aber kon­nte ich wed­er mein Leben noch eine Expe­di­tion finanzieren. Ich arbeit­ete sehr viel. Zum Glück gab es damals » Vor­bilder«: Berg­steiger, die ihr Leben teil­weise aus Wer­bev­erträ­gen finanzierten. Ein­er von ihnen war Wal­ter Bon­at­ti. An ihm ori­en­tierte ich mich. Meinen ersten Wer­bev­er­trag ließ ich nach seinen Vor­gaben ausar­beit­en. Als mir Wal­ter Bon­at­ti sein let­ztes Berg­buch »Die großen Tage« mit den Zeilen wid­mete: »Für Rein­hold Mess­ner, der jun­gen, let­zten Hoff­nung des großen, klas­sis­chen Berg­steigens«, gab mir das viel Selb­stver­trauen. Als Südtirol­er hat­te ich son­st auch emo­tion­al wenig Rück­halt. Wichtig war es, dass wir jun­gen Berg­steiger uns an Män­nern wie Bon­at­ti auch prak­tisch ori­en­tieren konnten. 

Der Himala­ja erschien mir damals als ein Traum, eine Art Him­mel für den Berg­steiger. Deshalb die Skep­sis neben der Über­raschung, als mich der deutsche Expe­di­tion­sor­gan­isator­Dr. Karl M. Her­rligkof­fer im Herb­st 1969 zu ein­er Nan­ga-Par­bat-Süd­wand-Expe­di­tion ein­lud. Er nan­nte sein Unternehmen »Sie­gi-Löw-Gedächt­ni­s­ex­pe­di­tion«. Trau­rig war ich nur, dass­mein Brud­er Gün­ther, der mich bis dahin bei den meis­ten Erst­bege­hun­gen in den Alpen begleit­et hat­te, nicht auch mit von der Par­tie sein sollte. Nach­dem aber Sepp May­erl und Peter Habel­er, die eben­falls auf der Ein­ladungsliste ges­tanden hat­ten, aus­fie­len, kam auch mein Brud­er in die Mannschaft.

In ein­er ziem­lich grossen Expe­di­tion, mit erfahre­nen deutschen und öster­re­ichis­chen Berg­steigern, klet­terten Gün­ther und ich im Mai und Juni 1970 etwa 40 Tage lang, mit Unter­brechun­gen, in der Süd­wand des Nan­ga Par­bat. Meist waren wir an der Spitze der Gruppe. Wir kamen bis unter die Merkl-Rinne, an einen Punkt, den vor uns keine Mannschaft erre­icht hat­te. Öfter hat­ten uns Schlechtwet­ter und Law­inenge­fahr aus der Wand zurück ins Basis­lager getrieben. Ein­mal blieben Gün­ther und ich mehr als eine Woche lang in der Wand­mitte eingeschneit. Elmar Raab, Wern­er Heim, Ger­hard Baur, Peter Vogler waren oft bei uns. Wie oft hat­ten wir geglaubt, dass die Expe­di­tion scheit­ern würde. Schließlich sollte nach langer Diskus­sion mit dem Expe­di­tion­sleit­er ein let­zter Ver­such gewagt wer­den. Gün­ther, Ger­hard Baur und ich stiegen noch ein­mal zum let­zten Lager auf, wo Felix Kuen und Peter Scholz auf etwa 7300 Meter ein Zelt aufgestellt hat­ten. Von dort aus erre­icht­en wir am 27. Juni, zuerst getren­nt, im let­zten Stück gemein­sam klet­ternd, den Gipfel des Nan­ga Par­bat. Die Rupal-Wand, die höch­ste Fels- und Eiswand der Erde, war durch­stiegen. Sicher­lich hat­ten wir bei­de in der let­zten Anstiegsphase die Gren­ze unser­er Leis­tungs­fähigkeit erre­icht. Wir waren in unser­er jugendlichen Begeis­terung weit­er gegan­gen, als ich es heute tun würde.

Wir kamen spät zum Gipfel. Mein Brud­er war sehr müde. Erste Zeichen der Höhenkrankheit stell­ten sich bei ihm ein. Beim Abstieg merk­te ich, dass er nicht mehr weit kom­men würde. Es wäre unver­ant­wortlich, ja unmöglich gewe­sen, ihn in diesem Zus­tand die Rupal-Wand hin­abzu­lot­sen. Vor allem, weil wir kein Seil dabei hat­ten. Ich hätte Gün­ther also nicht sich­ern kön­nen. Er wäre beim Abstieg gewiss irgend­wo aus der Wand gefall­en. An diesem späten Nach­mit­tag, bei aufk­om­men­dem Gewölk, entschloss ich mich kurzfristig, mit Gün­ther ein Stück in die West­flanke abzusteigen, in die Scharte unmit­tel­bar ober­halb der Merkl-Rinne. Von dort aus glaubte ich, am näch­sten Tag in die Rupal-Wand zurück­kehren zu kön­nen. In der Hoff­nung, dass andere Berg­steiger auf­steigen wür­den, um uns zu helfen, warteten wir eine fürchter­liche Nacht lang ab. Wir biwakierten in 8000 Meter Meereshöhe ohne jeden Schutz. Ohne Daunen­jacke, ohne Sauer­stof­fgeräte, ohne zu trinken, ohne zu essen. Es war eine Nacht, die uns seel­isch und kör­per­lich aushöhlte.Am anderen Mor­gen sah ich kaum noch eine Chance, irgend­wohin zu gehen, geschweige denn, bis an den Fuß des Berges zu gelan­gen. Nach­dem wir etwa bis 10 Uhr vor­mit­tags gewartet hat­ten und erken­nen mussten, dass Peter Scholz und Felix Kuen nicht zu uns, son­dern zum Gipfel unter­wegs waren, began­nen wir in unser­er Verzwei­flung den Abstieg über die Diamir-Seite des Nan­ga Par­bat. Ich war dem Wahnsinn nahe. Es war in diesem Augen­blick, als ich hin­fiel und mein Geist sich über den Kör­p­er erhob. Ich sah mich von außen den Berg hinabrollen. Noch ein­mal hat­te ich die Energie, zurück­zuge­hen in meinen Kör­p­er, ich musste den Brud­er in Sicher­heit bringen.

Die Diamir-Wand ist flach­er als die Rupal-Wand. Von oben gese­hen erschien sie mach­bar. Dabei war für uns das erste Stück ein momen­tan­er Ausweg aus der Todessi­t­u­a­tion. Ich hätte das Ster­ben in Untätigkeit nicht ertra­gen kön­nen. Wir woll­ten wenig­stens einen let­zten, verzweifel­ten Ver­such machen, ein Stück den Berg hin­un­terzukom­men. Bis Mit­ter­nacht müht­en wir uns ab. Immer wieder wartete ich auf Gün­ther, um ihn zwis­chen Séracs und den Felsen der Mum­mery-Rippe hin­un­terzuleit­en. Am drit­ten Tag dieses qualvollen Abstiegs – wir waren schon weit unten im flacheren Gletsch­er, und ich ging voraus, um nach dem Weg zu suchen – kam Gün­ther nicht mehr nach. Erst als ich zurück­ging und die große Law­ine sah, die inzwis­chen abge­gan­gen war, ahnte ich, dass er darunter begraben liegen musste, dass ich allein war. Aber ich kon­nte nicht begreifen, dass er tot war. Er, der mich auf Hun­derten von schw­eren Routen begleit­et hat­te, er sollte nicht mehr mit mir zusam­men sein! Mit ihm hat­te mich das Gefühl ver­bun­den, gemein­sam unver­wund­bar zu sein. Warum ließ er mich auf diesem Weg durch Felsen, Eis­brüche und Hochtäler allein? Einen Tag und eine Nacht lang suchte ich nach ihm. Mit­ten in dieser gigan­tis­chen Gletscher­welt zwis­chen den Eistrüm­mern, aus­gedör­rt, mit Erfrierun­gen an Hän­den und Füßen erlebte ich erst­mals den Wahnsinn. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, noch was ich tat. Ich kon­nte kaum noch gehen. Trotz­dem set­zte ich meinen Abstieg fort, kroch abwärts. Als ich zu Holzfällern kam, die mir den Weg ins Tal zeigten, erwachte ich aus ein­er Gle­ichgültigkeit, wie sie dem Ster­ben vorausgeht.

Ich brauchte viele Jahre, um diese Nan­ga-Par­bat-Expe­di­tion und den Tod meines Brud­ers zu bewälti­gen. Seinen Tod als Teil meines Lebens zu ver­ste­hen. Ich musste erst ler­nen mit dieser Tragödie zu leben. Im Herb­st 1970 wur­den mir in der Uni­ver­sität­sklinik Inns­bruck sechs Zehen und einige Fin­gerkup­pen amputiert. Damals glaubte ich nicht, dass ich je wieder auf die Berge steigen kön­nte. Ich wollte auch gar nicht mehr. Ich war so niedergeschla­gen und verzweifelt. Am Schmerz mein­er Eltern und mein­er Geschwis­ter wurde mir bewusst, dass meine berg­steigerische Tätigkeit für die Fam­i­lien­ange­höri­gen eine schw­ere­Be­las­tung gewe­sen war. Damals schon bat mich meine Mut­ter, keinen Acht­tausender mehr zu besteigen.

Bis zu diesem Jahr 1970 war ich ein­fach auf die Berge gek­let­tert. Mit viel Ehrgeiz, mit dem Vor­satz, möglichst wenige tech­nis­che Hil­f­s­mit­tel einzuset­zen, mit der Vorstel­lung, über alle bish­eri­gen Gren­zen hin­auszuge­hen. Ich war meinen Weg gegan­gen. Ich hat­te die alpine Geschichte studiert und daraus meine eige­nen Ideen abgeleit­et. Mit dem Ver­lust des Brud­ers wurde mir erst­mals ganz bewusst, wie sehr das Berg­steigen mit dem Tod zusam­men­hängt, wie gefährlich es ist. Jed­er Berg­steiger, der den Tod nicht als mögliche Kon­se­quenz ein­er großen Tour ver­ste­ht, ist ein Narr. Ich begriff aber auch, dass ich dieTragödie am Nan­ga Par­bat nicht rück­gängig machen kon­nte. Nach einem hal­ben Jahr Pause fing ich mit dem extremen Berg­steigen wieder an. Bei null. Nach den Ampu­ta­tio­nen kon­nte ich im Fels nicht mehr so gut klet­tern wie früher. Also steck­te ich all meine Begeis­terung in die großen Berge, wo es in erster Lin­ie Eis gibt.

1971 kehrte ich zum Nan­ga Par­bat zurück, um nach meinem Brud­er zu suchen. Im Basis­lager, im Halb­schlaf, träumte ich, wie er auf dem Gletsch­er auf­s­tand und zu mir ins Zelt kroch. Ich hat­te die Tragödie immer noch nicht ver­ar­beit­et. 1973 ging ich erneut zum Nan­ga Par­bat. Dies­mal, um ihn allein zu besteigen. Ich wollte meinem Berg­steigen eine ein­deutige Rich­tung geben. Allein, über eine schwierige Route und ohne tech­nis­che Hil­f­s­mit­tel wollte ich auf einen Acht­tausender klet­tern. Ich scheiterte.

1977, in ein­er pri­vat­en Leben­skrise, kam ich zum vierten Mal zum Nan­ga Par­bat. Wieder mit dem Vor­satz, ihn allein zu erklet­tern. Wieder scheit­erte ich. Ich scheit­erte an der eige­nen Schwäche, an der Angst vor der Angst, irgend­wo da oben nicht mehr zurechtzukommen.Erst 1978, nach­dem ich gel­ernt hat­te, das Leben auch allein zu ertra­gen, nach­dem mir bewusst gewor­den war, dass der Men­sch ein Einzel­we­sen ist, nach­dem ich aufge­hört hat­te, in Paaren zu denken, habe ich den größten Sprung meines Berg­steiger­lebens gewagt. Allein und ohne jedes tech­nis­che Hil­f­s­mit­tel – ausgenom­men natür­lich Steigeisen, Pick­el, Zelt und Schlaf­sack – stieg ich in die Diamir-Wand ein, klet­terte eine neue Route bis zum Gipfel und kehrte über eine andere neue Route zurück ins Basislager.Dieser Allein­gang begann im hin­teren Diamir-Tal, etwa an der Stelle, wo ich 1970 am Gletscher­rand verzweifelt auf meinen Brud­er gewartet hat­te. Am 7. August 1978, um 5 Uhr früh, stieg ich in die Wand ein. In weni­gen Stun­den durchk­let­terte ich die untere Wand­hälfte und erre­ichte auf ein­er Höhe von unge­fähr 6400 Metern eine kleine Plat­tform. Unter ein­er über­hän­gen­den Eiss­cholle erstellte ich mein Lager. Es war nur ein winziges Zelt, das ich eigens für diese Expe­di­tion hat­te bauen lassen. Ich kroch in den Schlaf­sack, schmolz Schnee, um genü­gend trinken zu kön­nen. Ich genoss dieses Allein­sein, weil ich für nie­man­den ver­ant­wortlich war. Einen ganzen Tag lang rastete ich in diesem Zelt. Ich erholte mich gut​.Am anderen Mor­gen um 5.02 Uhr – ich hat­te mich ger­ade im Schlaf­sack aufge­set­zt, um Tee zu kochen – gab es plöt­zlich eine Erschüt­terung. Wenige Sekun­den später ein Krachen und­Tosen rings um mich her. Ich riss den Zel­tein­gang auf, schaute hin­aus und sah, dass von allen Flanken, links und rechts, über und unter mir gewaltige Schneemassen zu Tal stürzten. DieseSchneemassen sam­melten sich unten zu ein­er einzi­gen Law­ine. Mehrere Kilo­me­ter weit über­flutete sie das Diamir-Tal.

Ich wusste zu diesem Zeit­punkt noch nicht, dass ein Erd­beben diese Eis­stürze aus­gelöst hat­te. Die schmale Eiszunge, die ich am Tag vorher benützt hat­te, um den mit­tleren Teil der Wand zu gewin­nen, hat­te sich von der Wand gelöst und war als Ganzes abgestürzt. Ich kon­nte also nicht mehr über den Weg zurück, den ich im Auf­stieg genom­men hat­te. Nicht auszu­denken, was passiert wäre, wenn ich einen Tag später unter­wegs gewe­sen wäre.Trotz der Tat­sache, dass mein Rück­weg abgeschnit­ten war, kam so etwas wie Über­mut auf. Im Bewusst­sein, nur mit Glück über­lebt zu haben, set­zte ich meinen Weg fort. Als ob Glück­sich poten­zieren müsste. Ich kam mir vor wie ein Schat­ten, der nicht ver­wund­bar war. Jet­zt hat­te ich keine Angst mehr. Es gab kein Zurück, es gab nur ein Nach-Vorn. In einem Zus­tand des Hochge­fühls stieg ich weit­er. Der Him­mel über dem Nan­ga Par­bat erschien mir als schwarze Unendlichkeit. Mit jedem Schritt nach oben tat er sich weit­er auf. Er war nur noch unter­brochen von jen­em Keil, der weiss ver­schneit gegen den schwarzen Hin­ter­grund als Gipfel über mir aufragte.

Dieses Hineinge­taucht­sein in das Nichts an den großen Bergen hat mir mehr als alle anderen Erfahrun­gen und immer wieder die exis­ten­tielle Prob­lematik des Men­schen vor Augen geführt. Warum sind wir da, woher und wohin? Ich fand keine Antwort; es gibt keine, wenn ich Reli­gio­nen ausklam­mere. Nur das Aktiv­sein im Dasein hebt die wesentlichen Fra­gen des Lebens auf. Da oben habe ich mich nicht gefragt, warum ich das tue, warum ich da bin. Das Steigen, die Konzen­tra­tion, das Sich-Aufwärtsmühen waren die Antwort. Ich selb­st war die Antwort, die Frage war aufgehoben.

Am drit­ten Tag, dem 9. August, erre­ichte ich endlich den Gipfel. Ich hat­te mich zulet­zt durch tiefen Schnee hin­aufgewühlt, streck­en­weise waren Felsen zu überklet­tern gewe­sen. Um zube­weisen, dass ich oben gewe­sen war, hin­ter­ließ ich ein Stück Papi­er mit Datum und Unter­schrift. Aus Sorge, diesen Allein­gang vor den zahlre­ichen Skep­tik­ern durch Bilder nicht genü­gend doku­men­tieren zu kön­nen – eine kaputte Kam­era, Nebel über den umliegen­den Bergen – befes­tigte ich eine Aluhülle mit dem Doku­ment an einem Hak­en, den ich in die Gipfelfelsen schlug. Ich habe dies nur ein­mal an einem Acht­tausender getan. Später fand ich so etwas nicht mehr für notwendig, und früher war es nie möglich gewe​sen​.Am gle­ichen Tag noch stieg ich zurück ins ober­ste Biwak. Das winzige Zelt stand auf ein­er Höhe von 7400 Metern in ein­er Schneemulde. Am näch­sten Tag Schnee­treiben, Nebel. Der­Ab­stieg unmöglich. Neuschnee deck­te alles zu. Einen Tag lang wartete ich. Im Ruck­sack hat­te ich Essen und Gas für eine Woche. Ich brauchte mich nicht vom schlecht­en Wet­ter in dieEnge treiben zu lassen. Das Abwarten aber war sog­ar physisch schwieriger zu ertra­gen als das Steigen. Dazu kam diese ständi­ge Angst vor allen nur denkbaren Gefahren. Beim Nicht­stun im Zelt kamen mir erste Zweifel an der Überlebensmöglichkeit. 

Was war, wenn es mehr und mehr schneite, wenn die Law­inenge­fahr unter mir unberechen­bar wurde?Am zweit­en Tag im Schlechtwet­ter nützte ich ein kurzes Aufreißen der Nebel unter mir, um mich zu ori­en­tieren. Dann stieg ich blin­d­lings in den Abgrund hinein. Im dicht­en Nebel, ohne zu wis­sen, wohin ich stieg, klet­terte ich ger­adewegs in die Tiefe. Mit dem Bewusst­sein, dass der flache Gletscher­bo­den 3000 Meter tiefer lag, war jet­zt keine Angst mehr ver­bun­den, nur der Wille durchzuhal­ten. In weni­gen Stun­den klet­terte ich die gesamte Diamir-Wand hin­unter. Am Mit­tag war ich auf dem Gletscher­bo­den. Ich kon­nte es selb­st nicht begreifen, dass ich kurz vorher noch weit oben in ein­er lebens­ge­fährlichen Falle gehockt hat­te. Immer noch ver­hüll­ten Nebel den Berg. Hoch oben schneite es​.Im Basis­lager angekom­men, erfüllte mich ein Gefühl von tiefer Zufrieden­heit. Nun hat­te ich als Berg­steiger alles erre­icht. Mehr als ich mir je erträumt hat­te. Alfred Imitzer und Willi Bauer waren da, zwei öster­re­ichis­che Berg­steiger, denen ich von meinem Auf- und Abstieg erzählte. Ich zeigte ihnen meine Route, redete, redete, redete.Damals habe ich ange­fan­gen, meine Erfahrun­gen aus einem Bedürf­nis her­aus weit­erzugeben. Meine Erfahrun­gen, was die Tak­tik am Berg ange­ht; mein Wis­sen, wie man eine Expe­di­tion finanziert; meinen Instinkt, wie man lebens­ge­fährliche Sit­u­a­tio­nen überlebt. 

Meine ersten Artikel und Büch­er hat­te ich auch geschrieben, um meine Ideen darzule­gen, nicht ohne Sendungs­be­wusst­sein. Zudem musste ich Geld ver­di­enen. Jet­zt wollte ich erzählen. Ich hat­te ja so viel erlebt. Obwohl ich berg­steigerisch voll befriedigt war, wollte ich den großen Alpin­is­mus nicht aufgeben. Ich war ein junger Mann, hat­te Lust weiterzuspielen.Seit meinem gelun­genen Allein­gang am Nan­ga Par­bat habe ich das Berg­steigen nicht mehr mit tierischem Ernst betrieben; nicht mehr mit dem Ehrgeiz des jun­gen Fel­sklet­ter­ers, der inden Dolomiten die schwierig­sten Wände seil­frei durch­steigen wollte. Es war mir gelun­gen, meine kühn­ste Idee zu ver­wirk­lichen: ein Mann und ein Acht­tausender. Die Berge soll­ten mir weit­er­hin Spielmöglichkeit­en sein, eine natür­liche Bühne, um all meine Fähigkeit­en, all meine Kräfte, all meine Instink­te aus­drück­en zu kön­nen. Bei mein­er ersten Expe­di­tion am Nan­ga Par­bat hat­te ich die «Hölle» erlebt. Bei meinem zweit­en Auf­stieg, im Allein­gang, den «Him­mel». Jet­zt kan­nte ich den Himalaja.


Mit fre­undlich­er Genehmi­gung von Piper für das Buch MAS­SIV 2021.

Quelle und Infor­ma­tio­nen:
Ver­lag: Piper
Imprint: Malik Nation­al Geo­graph­ic
Autor: Rein­hold Mess­ner
Buchti­tel: Über­lebt
Unter­ti­tel: Meine 14 Acht­tausender
Erschei­n­ungs­jahr: 2013
ISBN: 9783492403764

Rein­hold Messner

Rein­hold Mess­ner, 1944 im Südtirol geboren, gelan­gen viele Erst­bege­hun­gen, die Bestei­gung aller 14 Acht­tausender sowie der​“Sev­en Sum­mits”, die Durch­querung der Antark­tis, der Wüsten Gobi und Tak­la Makan sowie die Längs­durch­querung Grönlands.

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Mit dem Kauf dieses Buch­es erleben Sie nicht nur traumhaft schöne Bilder, lesen emo­tionale Geschicht­en und haben Zugang zum Musik-Album, son­dern sie spenden einen grossen Betrag direkt in den Berg, denn der ganze Erlös wird an Stiftun­gen gespendet, die sich für den Berg und die Men­schen am Berg ein­set­zen und engagieren.

Rein­hold Messner

Rein­hold Mess­ner, 1944 im Südtirol geboren, gelan­gen viele Erst­bege­hun­gen, die Bestei­gung aller 14 Acht­tausender sowie der​“Sev­en Sum­mits”, die Durch­querung der Antark­tis, der Wüsten Gobi und Tak­la Makan sowie die Längs­durch­querung Grönlands.

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