Mount Everest – Massiv mehr als nur der höchste Berg
Von Evelyne Binsack
Berufsbergführerin, Mental Trainerin und Coach,
Referentin, Helikopterpilotin und Buchautorin
Er kroch auf allen Vieren ein paar Meter vom Nordost-Grat weg, nachdem er schon mehrere Male zusammengebrochen war. Den Gipfel des höchsten Berges der Welt hatte er über die tibetische Nord-Route erreicht. Soeben noch ist er auf 8848 Metern Höhe gestanden, höher geht es nirgends mehr auf unserer Erde. Er hat sich seinen Traum erfüllt. Er hatte danach gesucht, die eigenen Grenzen zu überwinden, jetzt hat er sie überschritten. «Hilfe! Helft mir! Warum hilft mir niemand!» – wird er vermutlich verzweifelt in den eisig kalten Sturm gerufen haben. Er, der später nur noch unter dem Namen «Waving man» bekannt ist, ist im Abstieg vom Gipfel zwischen dem First- und Second-Step zwischen 8600 und 8700 Metern, in der tödlichen Abgeschiedenheit dieses gigantischen Berges an Erschöpfung zusammengebrochen. «Waving Man» bäumte sich ein letztes Mal auf seinen Knien auf, streckt seine rechte Hand in die Luft, als würde er jemandem zurufen: «Rette mich!», und stirbt. Als ich zwei Jahre später während meines Aufstieges auf den Mount Everest auf «Waving Man» stosse, kniet er noch immer da, ist mit seiner gegen den Himmel ausgestreckten Hand in der Luft, erstarrt. Dieser Anblick hat sich unauslöschlich in mein Gehirn geprägt, wie ein Bild, das in Felsen gemeisselt worden ist. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieses Bild meine Zukunft als Mental-Trainerin und Referentin prägen wird.
Ich wende mich ab und klettere weiter im Scheinwerferlicht meiner Stirnlampe. Langsam verdrängt die Dämmerung die Nacht und plötzlich stehe ich vor dem magischsten Augenblick meines Lebens: Dem Sonnenaufgang auf über 8700 Metern, hier, ganz alleine. Es ist ein Moment des kostbarsten, stillen Glücks, eine Begegnung mit der puren Kraft der Natur an einem Ort, wo es kein gestern und kein Morgen gibt. Auf Tuchfühlung mit diesem wunderschön geformten Berg steigt aus dem Unterbewusstsein die Überzeugung auf, dass kein Diamant wertvoller, keine Perle schöner ist als dieser intime Moment im Antlitz dieses prächtigen Naturschauspiels. Billionenfach glitzern die Schneekristalle wie riesige Brillanten im aufgehenden Licht der Sonne, und gleichzeitig scheinen alle meine Körperzellen dieses Bild in sich aufzusaugen.
Am Morgen des 23. Mai 2001, kurz nach 06.00 Uhr, erreiche ich den höchsten Punkt unseres wunderschönen Planeten im Gipfel-Alleingang und als erste Frau der Schweiz. Die «Chomolungma» was in der Sprache der Tibeter so viel bedeutet wie «Die Muttergöttin der Erde», den Mount Everest, 8848 Meter hoch. Ein Moment des unbeschreiblichen Glücks. Eine halbe Stunde bleibe ich alleine auf dem Haupt der Welt stehen, vergesse die Zeit und alles, was bisher mein Leben geprägt hat. Erst allmählich merke ich, dass inzwischen der 22-jährige, französische Profikletterer Marco Siffredi ebenfalls den Gipfel erreicht hat. Wir kennen uns aus dem Basislager und den Akklimatisationstouren, die wir gemeinsam unternommen haben. Nun teilen wir den Moment des Glücks, schenken uns ein gegenseitiges Lächeln, gratulieren und umarmen uns. Marco wird 16 Monate später, bei seinem Versuch mit dem Snowboard vom Everest durch das Hornbein-Couloir abzufahren, tödlich abstürzen. Marco’s Leiche ist bis zum heutigen Tag verschollen geblieben, trotz der erfolglosen Suchaktionen seines Vaters in den Folgejahren. Der Körper von «Waving man» wurde zwei Jahre später durch tibetische Hochträger mit Steinen zugedeckt.
Der Tod holt, in über 90% der Fälle, die Alpinisten nicht im Auf‑, sondern im Abstieg und in den meisten Fällen ist er nicht auf die Ursache objektiver Gefahren wie Spaltensturz, Lawinen oder Steinschlag zurückzuführen, sondern auf die Ursache mentalen Versagens. Das höchste Ziel wurde erreicht, der grösste Traum scheint sich für die Bergsteiger erfüllt zu haben. Zu schnell, zu weit, zu hoch, zu viel.
Doch was ist sie genau, diese Kraft die macht, dass persönliche Grenzen ignoriert und massiv übertreten werden – und jener nicht zuletzt, selbst Profialpinisten unterliegen? «No Limits», ein trügerischer Werbespruch, eine Introjektion, dem sich affine Menschen hinzuwenden scheinen. Die eigenen Grenzen ausloten und sie ausweiten, ist etwas ganz Positives. Wir wollen wissen, wie weit wir gehen können und was in uns steckt. Die Frage aber, warum persönliche Grenzen ganz freiwillig übertreten und sogar ignoriert werden, hat mich seit «Waving man» beschäftigt. Und so hat mich meine Everest-Besteigung im Jahr 2001 bis zum heutigen Tag, im geistigen und mentalen Bereich bezüglich der Willenskraft mit Fragen beschäftigt, denen ich nachgeforscht habe. Professor Dr. Roy Baumeister, ein amerikanischer Willensforscher mit dem ich im Jahr 2013 ein Gespräch geführt habe, bezeichnet diese grenzüberschreitenden Aktionen «den Verlust der Selbstkontrolle». Dieser Kontrollverlust ist uns eher in anderer Form und aus anderen Lebenssituationen bekannt, z.B. in Form von Reaktionsmustern wie Aggressions- und Wutausbrüche aber auch als Apathie oder Hilflosigkeit. Dass sich der Verlust der Selbstkontrolle nicht nur bei Bergsteigern, sondern auch bei Businessmenschen in Form einer nicht erkannten Erfolgssucht, einem Anerkennungs- und Geltungsdrang oder einer Macht- und Siegesgier zum Ausdruck bringen kann, ist uns nicht wirklich gegenwärtig. Im Gegenteil: Wir verstehen diese Energie eher als etwas Erstrebenswertes, missverstehen sie als Ehrgeiz, als selbstbewusstes Auftreten, als Potenz.
Das Ausblenden der eigenen Grenzen, das Unterdrücken der eigenen Körper-Wahrnehmung und das Wegschauen der sich ändernden, äusseren Bedingungen am Berg, sind offenbar auf «den Verlust der Selbstkontrolle» zurückzuführen. Die biblische Geschichte der Verführung, wo dieser eine, aber entscheidende und in seinen Konsequenzen weittragende Schritt zu viel gegangen wird, wiederholt sich in mannigfacher Weise in unserem Leben, auch am Berg.
Die nächtliche Begegnung mit «Waving man» oberhalb des Second Steps auf der Nordroute am Everest, die Erinnerung an Marco’s breitem Lächeln auf dem Everest-Gipfel, sein Tod im Folgejahr, waren sicher Ereignisse die dazu führten, dass ich meine eigenen emotionalen und mentalen Prozesse stehts zu überprüfen lernte.Was Willenskraft wirklich bedeutet und wie weit ich mit meinem Körper, meinem Geist, meiner mentalen und meiner physischen Kraft gehen kann, habe ich auf meinen Expeditionen zum Süd- und zum Nordpol bis ins letzte Detail in Erfahrung gebracht.
Während der 484 Tage unterwegs zum Südpol und später während der 105 Tage unterwegs zum Nordpol, habe ich mir nicht nur physisch meine eigene Willensstärke ausgetestet. Diese extremen Expeditionen schärften alle meine Sinne. Und erst später, als ich anfing die wissenschaftlichen Artikel über Willenskraft und deren Zusammenhänge bis hin zum Verlust der Selbstkontrolle zu studieren, lernte ich diese Prozesse genau zu verstehen. Bis heute durfte ich als Berufsbergführerin, aber auch in Form meiner Tätigkeit als Referentin und Mental-Coach, zahlreiche Menschen im Bewusstsein ihrer eigenen Stärken fördern, sie aber auch begleiten, wenn sie ihren persönlichen Grenzen begegnet sind.
Dass wir lernen können von Menschen, die ihre Fehler mit dem Tod bezahlten, hat für mich etwas Versöhnliches mit dem Leben. Es ist eine Art Zyklus, der sich vollendet. Sie, die zu früh gestorben sind, sprechen zu uns. Die emporgestreckte Hand des «Waving man», als Mahnmal. Wir dürfen nicht nur, wir sollen hinschauen. Wir sollen nachdenken. Und ja, wir dürfen von ihnen lernen. Wir brauchen nicht die gleichen Fehler zu machen. Und so lebt ein Teil von diesen Menschen in uns weiter.
Text: Evelyne Binsack, im August 2021