Eine Rettung der anderen Art
Von Luciano Fieschi
Ich bin Bergretter. Meine Tätigkeit ist kein Beruf, sondern vielmehr eine Berufung. Ich rette Menschen, die am Berg in Not geraten. Nicht selten gilt es für mich und mein Team, Leben zu retten. Es gilt bei jedem Einsatz, aufs Neue zu versuchen, innert kürzester Zeit sich der Situation gewahr zu werden und im Team – am Boden und in der Luft – die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für den Bergretter sind es Ausdauer, absolute Wetterfestigkeit, alpine Fähigkeiten und vor allem ruhig Blut, die einen Rettungseinsatz zum Erfolg bringen können. Viele Rettungen habe ich als Bergretter erfolgreich beenden dürfen. Jede für sich meisselt stets aufs Neue Lebensgeschichten und formt mich auf ihre eigene Art und Weise. Doch dieser eine Einsatz hat mich wie kein anderer nachhaltig «massiv» geprägt und in meinem Tun als Bergretter bestärkt.
Es klingelt an der Tür. Auf meiner Türschwelle steht ein sichtlich aufgebrachter und verängstigter junger Mann aus dem Dorf: «Am Fluss ist ein Unfall passiert, ein Sturz zwischen den Felsen, der Verletzte ist aus dem Wasser, er ist bei Bewusstsein und spricht. Wir haben die Rega (Luftrettung) benachrichtigt, wir brauchen Ihre Hilfe». Während ich dem Jungen aufmerksam zuhöre, klingelt mein Pager. Die Bestätigung, dass der Alarm richtig ausgelöst worden ist und die Rettungskräfte auf dem Weg sind.
Innert wenigen Minuten bin ich einsatzbereit. Ich begebe mich auf die Wiese in der Nähe meines Hauses, welche über die Zeit zu einem Helikopterlandeplatz umfunktioniert worden ist. Nachdem ich den Rettungshelikopter bestiegen habe, hebt dieser ab und fliegt zur Schlucht, wo der verunfallte Alpinist auf seine Rettung wartend ausharrt. An der Unfallstelle angekommen realisieren wir, mit welch schwieriger Topografie wir es zu tun haben. Selbst mit der komplett ausgefahrenen Rettungswinde gelingt es uns in einem ersten Versuch nicht, den Patienten zu erreichen. Es bedarf des Piloten ganzes Können und langjährigen Flugerfahrung, bis es gelingt, mich am Seil schwebend an der Unfallstelle abzusetzen.
Bis zu diesem Augenblick läuft alles gemäss Protokoll, sowie durch unzählige Stunden Training und erlebter Einsatzerfahrung in Fleisch und Blut übergegangenen Automatismen. Doch ein bedeutender Unterschied lässt mir heute einen kurzen Augenblick lang das Blut in den Adern gefrieren: Der neben mir mit einer stark blutenden Kopfverletzung auf einer Steinplatte zusammengekauerte junge Mann ist mein eigener Sohn.
Ein schwaches «Es tut mir leid», entweicht aus seinem Munde. Es bedarf meiner ganzen Willensanstrengung und Erfahrung als Bergretter, nicht den in mir brodelnden Emotionen anheim zu fallen. Jetzt ist keine Zeit hierfür! Ich muss meine Gefühle in den Griff bekommen und die Tatsache abstrahieren, dass es mein Sohn ist, der schwer verletzt und unterkühlt auf schnelle Hilfe angewiesen ist. Es ist ein Patient wie jeder andere, den ich hier retten muss.
Es wird mir schnell bewusst, dass der mitgeflogene Notarzt ebenfalls an die Unfallstelle abgeseilt werden muss. Der Zustand des Patienten erlaubt es nicht, ihn zu evakuieren, ohne dass die Wirbelsäule stabilisiert wird. In einem zweiten Anflugmanöver des Helikopters wird der Arzt neben uns abgesetzt. Augenblicklich nach erfolgtem Bodycheck stoppt der erfahrene Notarzt zuerst die Blutungen und fixiert anschliessend den Hals des Patienten. Währenddessen ich, zum weiteren Schutz des Nackens, diesen mit meinen Händen stabilisiere, überprüfe ich, ob andere Gefahren in der Schlucht lauern. Die Zeit drängt. Wir müssen den Patienten so schnell wie möglich in die Notfallaufnahme fliegen. «Bereit zur Evakuation», lasse ich den Piloten via Funkspruch wissen. In einem dritten Anflugmanöver nähert sich uns der Helikopter. Doch die fehlende Last an der Rettungswinde in Kombination mit dem «Downwash» der Rotoren lassen den Windehaken hin und her pendeln, sodass eine Punktlandung desselben unmöglich erscheint. Bereits beginne ich in rasenden Gedanken eine alternative Möglichkeit zur Evakuation zu suchen.
Angesichts des fragilen Zustandes des Patienten und der bereits verlorenen Menge Blut bleibt uns keine andere Möglichkeit, als auf das Können des erfahrenen Piloten zu vertrauen. Unermüdlich und in voller Konzentration gelingt es ihm, seine Maschine zu stabilisieren. Zentimetergenau und zwischen den Felsen für die Rotorblätter seiner Maschine auf engstem Raum, gelingt es ihm, mir den Haken in Griffweite zu bringen. Ich befestige den Patienten und den Arzt und gebe dem Windenoperateur das Signal, sie langsam in die Höhe zu ziehen. Bereits dreht der Helikopter ab und fliegt das in der Luft hängende Gespann zum nächstgelegenen Landeplatz, wo der Patient auf der Bahre stabilisiert und ins nächstgelegene Trauma-Zentrum weitergeflogen wird. Meine Arbeit ist getan. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun, als zu warten, bis der Pilot mich an der Unfallstelle abholt. Wieder ist es geschafft, der Patient konnte geborgen werden und befindet sich in guten Händen. Mein «Bergretter-Modus» fährt langsam runter und weicht meiner väterlichen Sorge um meinen verunglückten Sohn. Alleine in der Schlucht übermannen mich meine Gefühle. Ich bin unbeschreiblich dankbar, dass die anspruchsvolle Rettungsaktion meines Sohnes glimpflich verlaufen ist. Nun bleibt mir die bange Hoffnung, dass die Diagnose nicht allzu schlimm sei und er von seinen Verletzungen genesen werde. Zum ersten Mal spüre ich, wie es sich «von aussen» für die Angehörigen der Geretteten anfühlen muss. Ein Gefühl der Dankbarkeit, dass es die Organisation der Bergrettung gibt, flutet meine Sinne. Zugleich verspüre ich die absolute Bestärkung, mit meiner Tätigkeit als Bergretter meine innerste Berufung zu leben.
Nachtrag: Mein Sohn hatte Glück. Obschon der Diagnose einer Arterienverletzung am Kopf und der Fraktur einiger Halswirbel, haben es die Ärzte geschafft, ihn mit Erfolg zu operieren. Die anschliessende Rehabilitation hat er mit unerschütterlichem Willen gemeistert und kann voller Freude heute seinen Sport wieder leben.