Ein Problem massiv wie ein Berg und eine Lösung leicht wie der Wind
Von Prof. Dr. Reto Knutti
Seit vielen Millionen von Jahren sind sie da, viel länger als es Menschen gibt. Scheinbar unerschütterlich stehen die Gebirge in unserer Landschaft, Milliarden von Tonnen schwer und unverrückbar. Majestätisch und massiv im wahrsten Sinne. Nur ab und zu fällt ein Stein ins Tal, zerbricht und wird schlussendlich als feiner Sand weggespült. Als vergleichsweise winzige Wesen turnen wir seit ein paar Jahrhunderten auf Felsen und Eis herum, schreiben belanglose Listen mit bestiegenen Gipfeln in unsere Tagebücher. Und noch immer gibt es beliebig viele Flecken auf dieser Erde, die noch nie jemand betreten hat. Einsam, wild, unberührt und nie in direktem Kontakt mit Zivilisation.
Die Natur ist mächtig, aber der Eindruck täuscht dennoch. Seit dem Beginn der Industrialisierung um etwa 1750 haben wir die Menge von Kohlendioxid in der Atmosphäre um 50% erhöht. Rund vierzig Milliarden Tonnen pro Jahr stossen wir durch die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle, durch Abholzung und Landnutzungsänderung und durch Zementherstellung aus, bis 2019 jedes Jahr mehr als im Vorjahr. Über die Hälfte der gesamten Emissionen haben wir in den letzten dreissig Jahren ausgestossen, in der gleichen Zeit, in der die Wissenschaft die negativen Folgen unseres Handelns klar verstanden und mit immer grösserer Dringlichkeit aufgezeigt hat. Die Konsequenzen sind nicht ausgeblieben: Land, Ozean und Atmosphäre haben sich erwärmt, Grönland und die Antarktis schmelzen, der Meeresspiegel steigt. In den wenigen Jahren von 2015 bis 2019 haben die Schweizer Gletscher 10% ihres Volumens verloren, die Veränderungen sind von Jahr zu Jahr offensichtlicher und bei den Gletschern sogar von blossem Auge sichtbar. Von der Gletscherfläche und dem Volumen haben wir trotz verzögerter Reaktion in der Schweiz heute schon die Hälfte verloren. Extreme Hitzewellen und Niederschläge nehmen fast überall zu, einige Regionen trocknen aus. Bilder von überschwemmten Dörfern und verbrannten Landschaften füllen die Zeitungen. Der Klimawandel ist von einer abstrakten Theorie, deren Folgen weit entfernt scheinen, zu einer bedrohlichen Realität hier und jetzt geworden. Und Treibhausgase wie Kohlendioxid und Methan sind nicht die einzigen Einflüsse des Menschen. Vor der Industrialisierung haben wir etwa fünf Prozent der globalen Landfläche intensiv genutzt, heute ist es die Hälfte. Mit Reservoiren und Bewässerung verändern wir den globalen Wasserhaushalt so stark, dass der Einfluss messbar ist.
So massiv wie die Berge, so massiv also das Problem, das wir Menschen in einem Wimpernschlag der Erdgeschichte verursacht haben. Die Schwierigkeiten werden nur zunehmen, wenn alle auf der Erde ähnliche Bedürfnisse in der gleichen Art befriedigen wollen, wie wir das tun. Ohne einen Kurswechsel werden wir in ein paar Jahrzehnten ein Klima haben, das zwei bis drei Grad wärmer ist als vorindustriell. Um einen vergleichbaren Zustand in der Erdgeschichte zu finden, müssen wir mehrere Millionen Jahre zurückgehen. Den Menschen gibt es erst seit ein paar hunderttausend Jahren.
Der ungebremste Klimawandel ist keine Option. Ein solcher Pfad wäre dumm, unnötig und teuer. Die Auswirkungen wären kaum tragbar und die meisten Veränderungen über viele Jahrhunderte, einige gar nie rückgängig zu machen. Die Zukunft ist jedoch nicht alternativlos. Ein ambitioniertes Klimaziel ist machbar und kostet unter dem Strich weniger als abzuwarten und über Jahrhunderte für die Schäden zu bezahlen. Im Gegensatz zu früheren Zivilisationen, die sich selber unwissentlich fast oder ganz ausgerottet haben, indem sie ihren Lebensraum übernutzt haben, kennen wir sowohl die Ursachen, als auch eine Palette von Lösungsvorschlägen. Die Fähigkeit, die Natur zu verstehen, zu messen und Technologien zu entwickeln, hat einen unglaublichen Fortschritt und Nutzen ermöglicht: Zugang zu Energie, Medizin, Bildung und Kommunikation, eine Abnahme von Hunger und Armut und vieles mehr. Die gleichen Fähigkeiten sind jedoch verantwortlich dafür, dass wir unseren Planeten massiv überstrapazieren, weil wir immer mehr Energie und Ressourcen brauchen. Und es werden die gleichen Fähigkeiten sein, mit denen wir wieder aus unserem Problem herausfinden müssen.
Für die nötigen Schritte fehlt es nicht am grundsätzlichen Verständnis des Problems oder an Möglichkeiten. In Hunderttausenden von Studien wurde der Klimawandel mit seinen Auswirkungen berechnet, gemessen und untersucht. Wir wissen, dass nur eine vollständige Abkehr von allen fossilen Energieträgern innerhalb weniger Jahrzehnte den Klimawandel auf deutlich unter 2°C begrenzen kann, wie es im Übereinkommen von Paris 2015 festgelegt wurde. Lücken gibt es einerseits noch beim Verständnis der lokalen Auswirkungen und den nötigen Massnahmen dagegen, so zum Beispiel der Anpassung in der Landwirtschaft, im Tourismus oder an Naturgefahren. Andererseits sind gewisse Technologien noch teuer oder zu wenig verfügbar und es herrscht Uneinigkeit, mit welchen politischen Instrumenten die notwendige Transformation möglichst effektiv und schnell zu erreichen ist.
Die Wissenschaft kann vieles leisten, aber den Diskurs kann sie nicht eliminieren. Während ein Streit über den menschlichen Einfluss auf das Klima sinnlose Zeitverschwendung ist, ist die gesellschaftliche Debatte durchaus nötig, mit welchen Entscheiden und Massnahmen wir auf die Herausforderungen am besten reagieren. Die Klimakrise hat keine perfekte Lösung; wie andere gesellschaftliche Probleme ist sie vielschichtig. Keine Massnahme ist ganz ohne Nachteile und das Abwägen von Interessen und Prioritäten kann nicht mathematisch optimiert werden. Es erfordert vor allem eine Diskussion der Frage, welche Welt wir denn eigentlich wollen und welche wir unseren Kindern hinterlassen?
Die schiere Skala der Herausforderungen in den Bereichen Klimaschutz, Biodiversität, Energie, Ressourcen und Nachhaltigkeit ist schwer zu begreifen. Sie gleicht einer langen Erstbegehung mit einer zufällig zusammengestellten Seilschaft, mit dem beklemmenden Gefühl, am Morgen früh vor der Hütte, wenn plötzlich Zweifel an den eigenen Fähigkeiten aufkommen. Das kann lähmen. Aber Angst und Lähmung sind keine Mittel, um ein Problem anzupacken. Hoffnung ist ebenso fehl am Platz, es wird keine magische Lösung vom Himmel fallen. Was wir brauchen ist Mut. Es ist nicht so, dass die Karte nicht genügend präzise wäre. Sondern, dass wir vielleicht noch nicht genau wissen, welchen Weg wir weiter oben nehmen werden. Oder befürchten, dass wir uns darüber nicht einig sein werden. Schlimmer noch, dass einer in der Seilschaft noch gar nicht entschieden hat, auf welchen Berg er will, oder ob er überhaupt mitkommen will.
Wir können uns durchaus die Frage stellen, ob es schlau ist, dass wir in dieser Situation sind. Die Antwort ist: Nein. Ob wir das Ziel erreichen werden, zumal wir zu spät aufgestanden sind? Wir wissen es nicht genau. Am Ende werden wir es jedoch nur erfahren, wenn wir es versuchen; zurück gehen oder in der Hütte bleiben können wir nicht. Vielleicht wird es leichter gehen als erwartet. Vielleicht werden wir einen Umweg laufen, oder uns mit einer anderen Seilschaft zusammenschliessen und damit einfacher vorwärtskommen.
Jeder lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt, dann folgt der zweite. Und noch vor dem ersten Schritt auf dem Weg stehen die Schritte im Kopf. Wir müssen uns auf unsere Stärken besinnen: Entschlossenheit, Teamgeist, Ausdauer, Erfahrung. Die ersten Schritte sind leicht, wenn wir uns nicht selber oder gegenseitig im Weg stehen. Es braucht jedoch einen Ruck und den Willen, den Weg gemeinsam zu gehen und zu gestalten. Wer kommt mit?