Stephan Siegrist

Ein fataler Zwischenfall

Von Stephan Siegrist und Annette Marti

Ueli Steck und ich klet­terten am Eiger, bewegten uns in unserem zweit­en Zuhause und macht­en das, was wir am lieb­sten tat­en: neue Wege suchen. Dies­mal hat­ten wir eine span­nende Lin­ie durch die Nord­wand ent­deckt, die von der Sta­tion Eiger­wand direkt über das linke Spin­nen­bein zum Gipfel führt. Über erste schwierige Stellen unser­er Route »Young Spi­der« waren wir hin­aus. Ich hat­te eben eine senkrechte Stelle im Fels überklet­tert und kam in ein etwas weniger steiles Eis­feld links des »Bügeleisens«. Aus irgen­deinem Grund hat­te in der Nähe ein Hub­schrauber zu tun, es war an diesem Tag ungewöhn­lich lär­mig in der Eiger­nord­wand. Das knat­ternde Schla­gen der Rotor­blät­ter stärk­te das Prob­lem, das sich stellte. Ueli sicherte mich von unserem let­zten Stand aus und wartete, um nachzukom­men. Wegen des großen Fels­bauch­es, der uns tren­nte, kon­nte ich ihn wed­er sehen noch hören. Bald würde ich das Seilende erre­ichen, erblick­te aber keine Möglichkeit, wie ich hätte einen Stand ein­richt­en kön­nen. Das Eis war zu dünn für eine Eiss­chraube, in unmit­tel­bar­er Nähe gab es auch keine Sicherungsmöglichkeit am Fels. Die Frontza­ck­en mein­er Steigeisen gruben sich mit einem leisen, trock­e­nen Knack­en in den Schnee, die Eis­geräte über meinem Kopf gaben mir zusät­zliche Sicherheit. 

Plöt­zlich bemerk­te ich, wie mich das Seil tal­wärts zu ziehen begann, und stellte mit Entset­zen fest, dass Ueli sich wohl ins Seilende einge­hängt hat­te, um sich mit den Steigk­lem­men hochzuziehen. Sich nicht zu sehen oder zu hören, kann immer wieder ein­mal passieren, wir hat­ten deshalb als Zeichen aus­gemacht, dass wir das Seil­dreimal kurz nach oben ziehen und wieder fall­en lassen, sobald wir einen ver­lässlichen Stand gebaut haben. Das Seil muss sich aus Verse­hen so bewegt haben. Nur hat­te ich keinen Stand! Ueli hing mit seinem ganzen Gewicht und dem seines schw­eren Ruck­sacks an mir. Ich klam­merte mich an die Eis­geräte und ver­suchte, dem mörderischen Zug standzuhal­ten. Die einzige Zwis­chen­sicherung, die wir hat­ten, war ein küm­mer­lich­er grün­er Friend (ein Friend ist ein mobiles Sicherungsmit­tel, das beim Fel­sklet­tern zur Anbringung eines Fix­punk­tes angewen­det wird), der gut 20 Meter unter mir in einem Felss­palt hing. Er würde uns bei­de niemals hal­ten. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft hat­te, nicht loszulassen.

Der Zug war so stark, dass mir beina­he der Klet­ter­gurt über die Hüften hin­un­ter­rutschte. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern. Bis zur Kante musste Ueli kom­men, um das Missver­ständ­nis zu erken­nen. Auf mein­er Stirn brach kalter Schweiß aus. Sekun­den später war mir ganz heiß. So stellte ich mir die Sekun­den vor dem Tod vor. Mehrmals schrie ich: »Nein! Nein! Stopp!« Aber der Lärm des Hub­schraubers schluck­te meine verzweifel­ten Rufe. Ich dachte daran, wie uns die Touris­ten unten auf der Kleinen Schei­degg durch ihre Fer­n­rohre beobacht­en und sie dem­nächst ein weit­eres Dra­ma in Echtzeit miter­leben wür­den. Meine Arme über­säuerten. Ich merk­te, wie meine Kräfte nach­ließen. Die Beine wur­den vom Gewicht ins Eis ger­ammt, es lag nur wenig Schnee auf der Eis­fläche, auch da fand ich keinen zusät­zlichen Halt. Die Beine schmerzten, ich hat­te das Gefühl, sie müssten dem­nächst platzen. 

Es schien mir unmöglich, dass ich uns bei­de, Ueli und mich, hal­ten kön­nte. Und den­noch wusste ich, dass unsnur dies ret­ten würde. Am näch­sten Tag war ich völ­lig aus­ge­pow­ert, kon­nte Arme und Beine kaum mehr bewe­gen. Wir hat­ten nach dem fatal­en Zwis­chen­fall sofort abge­seilt und waren abgestiegen. Ueli gehörte zu den allerbesten Alpin­is­ten weltweit und war auch im extrem­sten Gelände abso­lut sich­er unter­wegs. Diese Sit­u­a­tion war wed­er Uelis noch mein Fehler. Es gab keine anderen Rückschlüsse als den­jeni­gen, in Zukun­ft mit Funkgeräten zu klettern. 

In den darauf fol­gen­den Tagen und Wochen bin ich mehrere Male aus dem Schlaf hochgeschreckt. Ich sah Ueli und mich durch die Luft wirbel­nd in die Tiefe stürzen. In Zeitlupe reg­istri­erte ich, wie Schneekristalle um uns herum­tanzten und wie der Wind durch die Sturzgeschwindigkeit zunahm. Ich träumte von den let­zten Gedanken, die meinen Eltern und meinen bei­den Schwest­ern gal­ten, von dem, was ich ihnen noch hätte sagen wollen, wie lieb ich sie habe und wie dankbar ich für ihre Loy­al­ität bin, mich das machen zu lassen, was mir am wichtig­sten ist. Und gle­ichzeit­ig wollte ich mich entschuldigen für den Schmerz, den sie durch meinen Absturz ertra­gen müssen. Es dauerte lange, bis mich die Angstzustände nicht mehr verfolgten.

Quelle und Informationen: 

Ver­lag: Orell Füssli
Autor: Stephan Siegrist, Annette Mar­ti
Buchti­tel: Leben im Sturm
Unter­ti­tel: Selb­st­por­trait eines Extrem­berg­steigers
Erschei­n­ungs­jahr: 2016
ISBN: 9783280056165

Stephan Siegrist

Geboren wurde Stephan Siegrist 1972. Seit dem 26. Leben­s­jahr ver­di­ent er seinen Leben­sun­ter­halt als Profi­alpin­ist und Bergführer. Er hat die Eiger­nord­wand über vierzig­mal bestiegen.

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Mit dem Kauf dieses Buch­es erleben Sie nicht nur traumhaft schöne Bilder, lesen emo­tionale Geschicht­en und haben Zugang zum Musik-Album, son­dern sie spenden einen grossen Betrag direkt in den Berg, denn der ganze Erlös wird an Stiftun­gen gespendet, die sich für den Berg und die Men­schen am Berg ein­set­zen und engagieren.

Stephan Siegrist

Geboren wurde Stephan Siegrist 1972. Seit dem 26. Leben­s­jahr ver­di­ent er seinen Leben­sun­ter­halt als Profi­alpin­ist und Bergführer. Er hat die Eiger­nord­wand über vierzig­mal bestiegen.

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