Adolf Ogi

DIE BERGE

von Adolf Ogi

Als Bergler, Kan­der­ste­ger, möchte ich Sie ein­beziehen in einige Gedanken zu den Bergen. Wir nen­nen sie oft erhaben. Ihre Höhe, ja ihre schrof­fen Wände provozieren uns dazu. Sind Berge, wie wir sie von den Alpen ken­nen nicht Mon­u­mente der Natur über allen Niederun­gen? Und in den Niederun­gen sind wir? Wir sind die Niederun­gen? Von der Natur in unser­er, Klein­heit, in unser­er Bedeu­tungslosigkeit zu Recht gewiesen? Wie kommt uns die Natur vor, dass sie solche Macht besitzt über uns. Ja sie besitzt Macht! Immer noch! Obschon wir sie zu besiegen ver­suchen. Auch immer wieder Siege feiern. Siege, die sich nur allzu oft in unsere Katas­tro­phen ver­wan­deln. Die Natur ist das Ewige:Sie war schon da, bevor wir da waren und sie ist noch da, wenn wir längst nicht mehr da sind. Wir ver­spüren in ihr eine Macht, die wir nicht erlan­gen kön­nen. Der liebe Gott ist in den Bergen zu Hause. Er ist auch in der Wüste zu Hause, deren Fasz­i­na­tion auf uns Men­schen um nichts geringer ist als die Fasz­i­na­tion der Berge. Und so ist es auch mit dem Meer. Der Berg, die Wüste, das Meer – das sind die Natur­bilder der Bibel. Sie spie­len eine gewaltige Rolle in den Botschaften unseres christlichen Glaubens. Aber Berge, Berge tau­gen nicht nur zum Gedanken an Natur und Gott, an Men­sch und Schöp­fung. Berge erzählen auch ganz men­schliche Geschichten.

Ich möchte Ihnen vier Geschicht­en aus meinem Bergler-Leben erzählen. 

Mein Vater war Bergführer. Er führte Men­schen sicheren Schrittes durch Steil­hänge und Couloirs auf Gipfel und wieder zurück ins Tal, das oft das Gefährlich­ste war. Ich erin­nere mich an meine erste Berg­tour. Als Sech­sjähriger mit meinem Vater. Er führte Bel­gi­er auf den Gipfel der Birre, den Klet­ter­berg ober­halb dem Oeschi­nensee. Ein bel­gis­ch­er Knabe ging mit mir am Seil. Ein fremder Knabe. Ein Knabe, der frem­dar­tig sprach. Franzö­sisch und Flämisch. Ich ver­stand ihn nicht. Er ver­stand mich nicht. Aber wir ver­standen bei­de unsere ganz tiefe kindliche Gemein­samkeit auf dieser Berg­tour, deren Gefährlichkeit wir erah­n­ten, schon alleine durch das Seil. Als wir im Tal die Tour began­nen, war Fremd­heit zwis­chen uns. Als wir auf dem Gipfel standen, waren wir bei­de glück­lich, strahlend, wie es Kinder in einem solchen Augen­blick eben sind. Als wir endlich im Tal waren, waren wir Fre­unde. Wir sind es geblieben bis heute. Heute ver­ste­hen wir uns. Heute disku­tieren wir. Heute stre­it­en wir manch­mal sog­ar. Die Erfahrung am Berg, dass nur Gemein­samkeit zum Ziel führt, hat unsere Fre­und­schaft ohne Worte uner­schüt­ter­lich gemacht. 

Eine Berg­tour auf die mich mein Vater als Elfjähri­gen mitgenom­men hat, ist mir in Erin­nerung geblieben: Mein Vater führte einen Inge­nieur und dessen Fre­und auf die Blüem­lisalp. Für die Rück­kehr entsch­ied man sich für die Tra­verse hinüber auf die Wis­si Frou und hinüber zum Mor­gen­horn. Vom Mor­gen­horn führt eine extrem steile Wand hin­unter ins Kien­tal. Sie war an jen­em Tag vereist, also gefährlich, vor allem für die bergunge­wohnte Gruppe, die mein Vater führte. Es ist in der Regel, dass der Bergführer beim Abstieg am Schluss sein­er Gruppe geht, um sie beim Aus­rutschen zu sich­ern. Auf dieser Tour ging mein Vater voraus. Er pick­elte drei Stun­den lang. Tritt um Tritt ins Eis, um den Abstieg zu ermöglichen. Ich erlebte einen kraftvollen Mann mit unge­heurem Willen, v.a. mit dem Willen, Men­schen sich­er zu führen, sein ganzes Kön­nen, seine ganze Kraft einzuset­zen für die Sicher­heit anderer.Ich erlebte gelebte Ver­ant­wor­tung. Worte hat­te ich damals für dieses Erleb­nis noch keine. Ich hat­te nur Bewunderung! 

In mein­er Zeit als Bun­desrat erlebte ich Stun­den der Rat­losigkeit, gewis­ser­massen der Bun­desrat­slosigkeit: Wir wussten nicht weit­er, zum Beispiel in der Bud­get­ber­atung. Als Bun­de­spräsi­dent machte ich den Vorschlag: Gehen wir auf den Berg, nehmen wir genug Pro­viant mit, kom­men wir erst herunter, wenn wir Rat gefun­den haben. Wir gin­gen aufs Schilthorn. Wir arbeit­eten in einem Sitzungsz­im­mer mit Ver­glasung bis an den Boden. Die Berg­welt lag im wun­der­baren Son­nen­licht, später in der Aben­dröte. Wir trat­en jede Stunde vor das Haus in die Natur. Es ent­stand unter uns eine Stim­mung der Zuge­hörigkeit zu dieser Berg­welt und der Zusam­menge­hörigkeit als Kol­legium. Wir fan­den Rat, weil wir uns fan­den im gemein­samen Tun, in gemein­samer Ver­ant­wor­tung. Kon­flik­te, die im Bun­desrat­sz­im­mer Rat­losigkeit provoziert hat­ten, waren plöt­zlich nicht mehr da. Der Berg gab uns den Blick für das Wichtige. 

Die Berge befahren wir auch: Mit Berg­bah­nen, mit Seil­bah­nen, mit Skis, mit Snow­boards, mit Schlit­ten. Und wir tri­um­phieren über die Steil­hänge. Wir besprühen die Pis­ten mit kün­stlichem Schnee. Aus den Bergen machen wir Geld. Haben wir sie besiegt? Sind die Berge klein gewor­den? Harm­los sog­ar? Ich erin­nere mich an die Bergung und Ret­tung eines Brud­er­paars am Balmhorn. Ich war damals 16-jährig. Der eine der verunglück­ten Berggänger war tot, lag zer­schmettert in der Tiefe. Vier Stun­den lang tru­gen wir die Leiche ins Gastern­tal. Es war meine erste Begeg­nung mit Unglück und Tod. Es war eine lange Begeg­nung. Ich kon­nte nicht auswe­ichen. Und so gin­gen mir, dem 16-jähri­gen, über Stun­den und Stun­den Gedanken zur Vor­läu­figkeit auch jun­gen Lebens durch den Kopf. Auch Gedanken zum Schick­sal! Warum ist der eine Brud­er tot, der andere lebt? Wer hat das ange­ord­net? Das Schick­sal? Eine überirdis­che Macht? Gott? Die Natur stellt uns die ewige Frage: Was tun wir hier? Wie bemessen ist unsere Zeit? Was ist das Wichtig­ste? Die Natur wirft uns zurück: Auf uns selb­st. Bilden nicht die Steil­wände der Berge Kathe­dralen der Natur und der Him­mel ist das Dach. Das unerr­e­ich­bare überhaupt? 

Manch­mal helfen die Berge, Antwort zu find­en. Aber das viel Wichtigere ist, dass sie uns helfen, ja dass sie uns her­aus­fordern, mit Fra­gen zum Leben.

ADOLF OGI

Adolf Ogi wurde 1942 in Kan­der­steg (BE) geboren. Er ist Mit­glied der Schweiz­erischen Volkspartei (SVP)und war in den Jahren 1993 und 2000 Bun­de­spräsi­dent der Schweiz. Im Dezem­ber 2000 trat er nach 13 Jahren als Bun­desrat zurück.

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ADOLF OGI

Adolf Ogi wurde 1942 in Kan­der­steg (BE) geboren. Er ist Mit­glied der Schweiz­erischen Volkspartei (SVP)und war in den Jahren 1993 und 2000 Bun­de­spräsi­dent der Schweiz. Im Dezem­ber 2000 trat er nach 13 Jahren als Bun­desrat zurück.

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