
Jetzt erst recht: Auf zum Mont-Blanc!
von Art Furrer
Selbst in hohem Alter braucht der Mensch anspruchsvolle Ziele. Ob sie gelingen oder nicht, ist nicht entscheidend. Ulrich Inderbinen, Bergführer aus Zermatt, wurde 103 Jahre alt. Mit 90 Jahren bestieg er zusammen mit einem jüngeren Bergführer noch einmal das Matterhorn.Eine Sensation, die um die Welt ging. Ulrich war mein grosses Vorbild. Wie er sich am Berg bewegte, Schritt um Schritt, immer in gleichem Rhythmus, ohne anzuhalten, faszinierte mich.
Ich hatte lange ein ehrgeiziges Ziel: Mit achtzig nochmals aufs Matterhorn. Ich musste runtergeflogen werden, was natürlich einige Zermatter Bergführerkollegen mit abschätzigen Kommentaren quittierten und die Walliser Presse zu spitzen Kommentaren veranlasste. Vielleicht war es gerade diese Kritik, die mich anstachelte, ein neues Ziel anzupeilen: Ich wollte noch einmal den Mont-Blanc, den höchsten Berg der Alpen, besteigen. Ich habe es diesmal meiner Frau, meiner Familie und allen gesagt, die es wissen wollten. Das hatte auch einen guten Grund. Es bedeutete, dass ich mich verpflichtete, es wirklich zu tun. Wenn ich es nicht machen würde hiesse es schnell, ich sei ein Angeber…
Ich fing sofort an zu planen. Der Berg mit seinen 4810 Metern ist sehr anspruchsvoll. Ich erinnerte mich an den 12.August 1961, da stand ich als blutjunger Bergführer mit dem doppelt beinamputierten Franz Merk auf dem Gipfel des Mont-Blanc. Das muss und will ich auch als 82-Jähriger noch schaffen. Ich fing an, täglich zu trainieren. Schaffte in mehreren Monaten 70 000 Höhenmeter vor der Besteigung. Dann suchte ich nach dem richtigen Bergführer. Es darf kein junger sein. Die laufen zu schnell, was am Berg Gift ist. Wer will schon mit einem 82-Jährigen auf den höchsten Berg der Alpen? Wer will das Risiko eingehen? So viel Kritik einstecken, falls das Vorgehen scheitert? Nur ein Topprofi kam infrage!
Willy Imstepf war mein Favorit der ersten Stunde. Er stammt aus einer Familie mit dreizehn Kindern. Der strenge Vater und die liebe Mutter zeigten ihm den Weg in die Selbständigkeit. Er absolvierte eine Lehre als Maurer. Dann arbeitete er während zehn Jahren als Skilehrer und Bergführer in meinem Forum Alpin. Er wurde ein exzellenter Bergführer, war auch schon auf einem Achttausender, dem Gasherbrum (8034 m ü.M.), und kennt die Alpen wie seinen Hosensack. Willy hat zugesagt. Ich wusste, sein Wort gilt, seine Fähigkeiten sind grenzenlos, sein Verantwortungsgefühl und seine Moral mustergültig, dazu hat er einen fabelhaften Humor. Ein Volltreffer! Per Auto ging es nach Chamonix, wo wir uns reichlich verpflegten, eine grosse Flasche Burgunder tranken und selig schliefen. Am Seilbahn-Desk wollte eine junge Dame meine ID sehen, um nachzusehen, ob ich wirklich den Rentnerrabatt verdiene. Sie entdeckte meinen Jahrgang und fragte gleich, ob ich mogeln wolle. «Was, auf den Mont-Blanc wollen Sie?»
Der Aufstieg zur Cabane Aiguille-du-Goûter, noch 1400 Höhenmeter Aufstieg, war anstrengend. Ich sah immer wieder meinen Franz und seine Prothesen und konnte kaum glauben, dass ich ihn vor 61 Jahren diese steilen Felswände hochgeführt hatte.
Der Klimawandel hat den Berg stark verändert, ich habe ihn kaum wiedererkannt. Die Hütte ist ganz neu, Hüttenwart und Mitarbeiter sehr nett, der Burgunder noch besser als unten im Tal, die Flasche war bald leer und wir schliefen wie Murmeltiere, bis um zwei Uhr der Stress begann. Es fehlten noch 900 Meter bis zum Gipfel. Vorerst ging es über einen langen, verschneiten Gletscher, dunkle Nacht, die Luft wurde dünner und der Wind zunehmend heftiger. Endlich wurde es Tag, wunderschön. Wir erreichten und überschritten den Dôme-du-Goûter, 4200 mü.M.
Willy ging in seinem gemächlichen Tempo, ohne je anzuhalten. Vor uns der steile, exponierte Schneegrat. Noch verblieben 600 Höhenmeter. «Art, nicht hochschauen. Konzentriere dich auf deine Füsse. Hier darf kein Fehler passieren. Sicherungsmöglichkeiten gibt es keine, ausser die eigene Körperkraft. Der Wind nagt an unserem Gleichgewicht.» Ich erkannte den Berg nicht mehr. Der vereiste Schneegrat wurde immer schmaler, beiderseits der Tiefblick in steile Schneeflanken. Der Sauerstoffmangel liess meine Kräfte erlahmen. «Weiter, weiter», rief Willy. «Der Kopf entscheidet. Keine anderen Gedanken, nur weiter, nur hoch.»
Auf einmal wurde es flach. Ich fragte Willy: «Wie weit geht es noch?» – «Wir sind auf dem Gipfel!» Willy nahm mich in die Arme und gratulierte. Ich erinnere mich nur noch, dass da einige andere Bergsteiger standen. Auch die gratulierten. Berge ringsum sah ich keine. Ich war einfach da und verspürte kaum Freude. Mit anderen Worten: Ich war weg, interesselos. Willy schoss einige Fotos. Ich nuschelte herum, wollte Gerlinde anrufen. Das ging nicht, weil ich die Zahlen nicht erkannte. Mein Kopfcomputer hatte offenbar eine Auszeit genommen. Es herrschte Ruhe auf dem Gipfel, es war sicher der schönste Moment der Tour.
Eigentlich spürte ich keine Müdigkeit auf dem Gipfel, körperlich hatte ich die fünf Stunden Aufstieg schmerzlos geschafft. Wir haben oben weder gegessen noch getrunken, obwohl ich zwei Cola im Rucksack hatte. Ich hatte keine Beschwerden, weder Durst noch Hunger. Auch keine Gleichgewichtsstörungen. Ich musste mich nur noch total auf den schwierigen Abstieg konzentrieren.
Ungefähr um 8.30 Uhr befahl Willy den Rückzug. Der Abstieg braucht weniger Kraft, dafür viel mehr Konzentration. Dazu kam bei mir ein zusätzliches Problem. Der grüne Star, eine typische Bergführerkrankheit, war bei mir erfolgreich operiert worden. Das Unterscheidungsvermögen zwischen Hell und Dunkel ist aber seither verzögert, die Distanzschätzung ungenau. Die Genauigkeit bei der Trittsuche verändert sich um etwa zehn Zentimeter. Speziell beim Absteigen entstehen dadurch Gleichgewichtsstörungen, Unsicherheit und zusätzlicher Kraftverschleiss. Für Willy eine zusätzliche Belastung.
Vor allem zu Beginn des Abstiegs, auf den ausgesetzten Graten, wurde es problematisch. Je tiefer wir kamen, desto besser ging es. Geist und Körper funktionierten wieder besser. Wir erreichten die Hütte zur Mittagszeit. Dort blieben wir eine weitere Nacht, denn bis zur Bahnstation fehlten noch weitere 1600 Höhenmeter. Obwohl viele Bergführer mir gratulierten, konnte ich mich noch nicht so richtig freuen. Selbst der Burgunder schmeckte mir kaum. Selbst das Schlafen fiel mir schwer. Körper und Geist waren wie ausgebremst, völlig passiv.
Der Tag danach. Das Wetter schlug um. Die Winde wurden stürmischer, die Berge waren wolkenverhangen. Die Hütte voll von Bergsteigern. Keine Chance für eine Mont-Blanc-Besteigung. Auch wir hatten vor unserer Besteigung der Wetterlage nicht ganz getraut. Willy hatte, trocken wie er ist, zu mir gesagt: «Art, wer wagt, gewinnt!» Dann stiegen wir die restlichen, teils anspruchsvollen 1600 Meter ab zur ersehnten Bahn, die uns zurück nach Chamonix brachte.
Ich bin Willy sehr dankbar, ohne seine professionelle Führung und Betreuung hätte ich den Mont-Blanc nie geschafft!
Und jetzt? Der Mont-Blanc war der Abschluss meiner Spitzenleistungen am Berg. Es reicht. Ich will den Bogen nicht überspannen. Ein wichtiger Grundsatz am Berg heisst: Umkehren, bevor es zu spät ist. Sonst passiert es wie bei Ueli Steck und anderen. Das Alter respektieren, bevor es knallt. Es hätte schon oft in meinem Leben knallen können.
Die Berge sind und bleiben für Gerlinde und mich Heimat. Wir respektieren das Älterwerden. Wir versuchen, uns körperlich und geistig fit zu halten, durch tägliches Training, durch vernünftigen Umgang mit Wein und Brot, und wir wollen das Leben geniessen.